175 Wo wir stehen

175 Wo wir stehen

München, Juni 2021.

Das Geißblatt duftet, Rosen weben sich durch den Garten, allein die Daunen der Bobby James bilden ganze Decken, die sich über das Geäst des Mirabellenbaumes ausbreiten, verführerisch weich und strahlend rein – die Bienen summen darin, der Einladung folgend. Die Hühner sind gewachsen, sie geben mannigfaltige Laute von sich, plappernd, gurrend, piepend, gackernd freuen sie sich ihres Lebens, pickend, scharrend, Insekten hinterherjagend, sich streitend verbringen sie ihren Tag. Mit angezogenen Knien sitze ich auf der neonpfirsich-metallenen Bank vor der Voliere, seiend, mehr nicht – nicht weniger.

Ich bin langsamer geworden in meinen Bewegungen die vergangenen eineinhalb Jahre, ertappe mich zuweilen beim Selbstgespräch. Deutlich spüre ich mein Mißtrauen, meinen Widerwillen, jetzt wo sich alle plötzlich wieder in den Arm nehmen – genau jene Leute, die zuvor die Straßenseite gewechselt hatten, um sich nicht anzustecken. Ihre Angst verschwindet allmählich, meine Abscheu ist geblieben. Harte Worte, ich weiß. Mich ekeln die Lügen, die akzeptierten Widersprüche, die Ablenkungsmanöver von essentiellen Dingen, die Dauerfloskeln und frisierten Karrierebiographien, die dramaturgische Weise, sich zu platzieren im öffentlichen Denken. Dampfplauderer, die heiße Luft blasen, ohne wirkungsvoll ins Handeln zu geraten. Misotroniker, Gaslighter, Narzissten, Influencer. Personen, die glauben, das Geld falle den Märchendukaten gleich aus des Esels Hintern, die meinen, alles ließe sich umverteilen und schwupps ist das Problem gelöst und jenes und das dort. Jahrelang, jahrzehntelang hatten wir – der Staat – keine Mittel für die Alten, für die Pflege, von Fürsorge ganz zu schweigen, menschlicher Herzlichkeit: Waschen, Füttern, fertig, zuweilen nicht einmal ausreichendes Wenden, sodaß die Hilflosen wund lagen. Ist halt so, keine Mittel, keine Gelder. Und jetzt wird es hinausgedonnert, das Kapital, und die Welt verkehrt sich: Kredite kosten nichts, für Vermögen auf Konten fallen Gebühren an. Wir stecken mittendrin. Jetzt.

Genau diejenigen, die die größte Panik und Hysterie verbreitet hatten, Kontaktverzicht bis zur Perversion inklusive Denunziantentum, exakt jene sind auf Reisen im Ausland, letzten Sommer schon und heuer wieder, mit Kind und Kegel, wochenlang. Da ist es in Ordnung, nach Italien zu fahren, nach Spanien oder Dänemark, fürs eigene Vergnügen, man arbeitet ja so hart, da braucht man das, den Urlaub. Oh, sie können es gewiß begründen, argumentativ rechtfertigen.

Das ist das Merkmal der westlichen Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts: wir können alles moralisch in ein für uns stimmiges Bild pressen. Wir sind immer im Recht. Die Verantwortung trägt der andere, die Schuld sowieso.

Wir sind die Guten, wir sind die Helden. Wir alle sind so unendlich toll, besonders, einmalig, talentiert; da fällt mir ein, ich muß mich korrigieren: wir sind die Gut/innen, die Held/innen. Wir sind ja jetzt immerzu die /innen. Damit jeder schnallt, wie gleichberechtigt die Frau heutzutage ist. Wir sind endlich wirklich auf dem richtigen Weg, was soll da noch schief gehen? Quatschen, bis Soll und Sein übereinstimmen, der demokratische Konsens segnet es ab.

Die Rosen blühen. Das Geißblatt duftet. Sie nehmen meine Wut auf, die Verzweiflung, Enttäuschung, Hilflosigkeit. Von den Blumen lasse ich mich umarmen, sie waren da gewesen die vergangenen eineinhalb Jahre, tröstend. Ich dachte mein Leben lang, Freiheit sei das höchste Gut. Ich erkenne, es ist etwas anderes: Loyalität, eine aussterbende Sache. Wenn sich die Fähnchen im Winde drehen, dann vertraue ich eben auf den Wind. Es ist so viel kaputt gegangen, ihr merkt es nicht einmal.

Wir sind einen Hauch lang auf Erden. Nach wenigen Tagen ist die weiße, verschwenderische Woge der Bobby James bereits wieder Vergangenheit. Ich hoffe, sie in der nächsten Sommersaison wieder feiern zu dürfen. Wertschätzung, Freiheit, Loyalität, die Essenz von wahrem, positiven Stolz, von Würde. Die Würde der Mensch/innen ist unantastbar.

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