170 Die Barbaren – wir
Frankreich, Januar 2018.
Die Partnerfirma befindet sich in Chaumont Haute-Marne; an dieser Konferenz teilzunehmen, ergab keinen Sinn, da auschließlich technische Details zu besprechen waren, Kompetenzen, über die ich nicht verfügte, und so versenkte Vater sich in Arbeit, während ich in jener frostkalten ersten Januarwoche durch die verlassenen Gassen des kleinen Örtchens schlenderte, das einst Glanz und Pomp gekannt hatte und nun im Dornröschenschlaf schlummerte. Pittoreske, steinerne Häuschen duckten sich eng aneinander, sehr viele davon mit Erkerchen und Türmchen versehen, Zinnen, Fahnenwimpeln, Schmiedearbeiten. Mit Bedauern stellte ich fest, daß ein Großteil davon offensichtlich aufgegeben worden war, verwaist, dem Verfall anheim gegeben, Putz platzte in breiten Flächen ab, Risse zogen sich Gewitterblitzen gleich durch das Mauerwerk, Scheiben waren zersplittert und Graffitti allgegenwärtig. Menschen – obwohl immerhin etwa 22.000 Einwohner zählend – begegnete ich kaum, Cafés waren dunkel, Bäckereien unbeseelt und ohne Kuchenduft. Mich fror fürchterlich, ich hatte mir kein geeignetes Gewand mitgenommen, und so kroch mir die graue Luft direkt unter die Haut.
Chaumont war Schauplatz einiger historischer Ereignisse gewesen, hier hatte die Viermächteallianz (Großbritannien, Rußland, Österreich, Preußen) 1814 ihren Bündnisvertrag gegen Napoleon unterzeichnet, hier befand sich 1917 das Hauptquartier des Generals Pershing, Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte im 1. Weltkrieg. Einige Fassaden kündeten von einer einst vermögenden Schicht, welche dem Ruf, der Attraktivität der Region gefolgt war: Unternehmer, Kaufleute, die sich Zierrat und Opulenz gegönnt hatten, an der sich noch heute der Besucher – ich Flaneur – erfreuen konnte. Die im Herzen der Altstadt eingekapselte niedliche Basilika aus dem 13. bzw. 14 Jahrhundert überraschte mit einem aufwendigen, kleinteiligen Portal voll kostspieligen Figurenschmucks und einem beeindruckenden Inventar innen. Wie oft hatte ich die Kirche für mich alleine. Ich mag es, mich in eine der knarrzenden Bankreihen zu setzen, den Blick schweifen zu lassen über von Schritten blankpolierte Böden und künstlerische Dekorationen, dem alten Weihrauchduft nachzuschnuppern, der Stille zu lauschen und mir all die zig tausenden Menschen vorzustellen, die hier bereits einmal anwesend gewesen waren, ihre Gewänder und Lebenssituationen, ihren geschichtlichen Kontext, ihre persönlichen Sorgen, Wünsche, Hoffnungen. Man ist für sich und trotzdem umgeben von den Schatten der Vergangenheit… Einem Ritual gleich entzündete ich eine wächserne Kerze, nachdem mit beinahe überlautem, metallenen Klonken die Münze im Geldkasten verschwunden war, betrachtete das orange Flackern und betete ein Vaterunser für meine Schwester, so wie ich es immer tue, wenn ich eine Kirche betrete, ein Vaterunser für meine Schwester und mittlerweile auch eines für meine Tante; manchmal spreche ich stumm das Vaterunser so, daß jedes Ein- und jedes Ausatmen auf ein einzelnes Wort fällt, dann scheint es eine halbe Ewigkeit zu dauern, doch wird die Ungeduld bald verdrängt von einer geistigen Klarheit. Ich muß es gestehen: kein Akt des Glaubens, sondern ein liebgewonnenes Ritual, ursprünglich Trost in der Trauer, nun ein Gedenken.
Chaumont kann desweiteren mit dem bedeutendsten Viadukt aus Naturstein auftrumpfen, das in Westeuropa existiert – wer hätte dies angenommen? Es war in rasanter Bauzeit zwischen 1855 und 1856 entstanden und erstreckt sich in 50 Bögen über drei Etagen auf einer Länge von ca. 650 Metern und ist dabei 50 Meter hoch. Phänomenal, wenn man mitkriegt, daß die bei uns in der Gegend regelmäßig zwei Jahre für simpelste Doppelhäuser benötigen.
Es begann, zu nieseln, das Begehren nach einer heimeligen Schreibstube, nach Kaffee steigerte sich, und noch immer blieben mir ein paar Stunden des müßigen Aufenthaltes, ehe die Rückfahrt der Geschäftsreise – die dieses Mal für mich keine solche sein sollte – anzutreten war. Ich lief und lief, stromerte herum wie ein Straßenköter, die Bewegung genießend, schauend, sinnend und immerzu bibbernd. Irgendwie, etwas außerhalb des Zentrums, stand ich plötzlich vor den Toren eines Friedhofs. Manche fürchten die Ruhestätten Verstorbener, meiden sie. Ich schlage da eher nach meiner Mutter: sie war als bitterarmes Kind in einem Haus aufgewachsen, dessen Grundstück direkt an einen Hamburger Friedhof (welchen weiß ich nicht) angrenzte – ohne Zaun, sodaß sie schon als Vorschulmädel am liebsten Verstecken und Fangen zwischen den Gräbern spielte… Gut, zum Spielen ist mir nicht zumute auf Friedhöfen, aber gepflegte suche ich gerne auf, um mir meiner Endlichkeit bewußt zu werden und um mitzufühlen mit den Schicksalen anderer und kann diejenigen Münchens übrigens auch (pietätvollen) Touristen empfehlen.
Ich betrat also Chaumonts Friedhof und sollte einmal mehr unerwartet berührt werden; wenn das Herz unvermittelt einen dicken Hopser macht, wenn es schneller schlägt vor Ergriffenheit, sich zusammenzieht aus Mitleid, danach suche ich: nach dem Aufruhr, nach reinster Emotion fernab von Wut, Langeweile, Stumpfsinn. Herrliche Mausoleen reihten sich wie Perlenschnüre auf, jeder Familie ein eigenes gewidmet, allesamt aus dem 19. Jahrhundert datierend und gestaltet im Stil der Gründerzeit bzw. des Art Nouveau; es fanden sich Schmerz verkrümmte zarte Frauengestalten, weinende Engel, Gebinde aus Früchten, Heiligendarstellungen, freilich steinern. Namen, Berufe, Geleitworte der Verblichenen waren eingemeißelt in die Fronten, ein letztes verzweifeltes Festhalten – er/sie hat gelebt! -, ein letztes Adieu… An anderer Stelle traf man die Grablegen von Säuglingen und Kindern an, ergreifend, führten sie einem vor Augen, wie wenig selbstverständlich einst neues Leben gewesen war, wie fragil und zerbrechlich; all die winzigen, keinen halben Meter langen Felder, all das elterliche Leid, das sich über sie ergossen hatte, längst vorüber, passé. Und dann, mir besonders unerträglich, die Konfrontation mit dem Deutschtum, mit den Gräueln, dem Denunziantentum, der Gleichschaltung, Auslöschung – was habe ich nicht alles gelesen an Sachliteratur (als markerschütterndes Beispiel sei hier Swetlana Alexijewitschs „Die letzten Zeugen“ genannt), und trotzdem donnert noch immer ein Paukenschlag durch mich hindurch! Fotos, Schwarz-Weiß-Aufnahmen auf Email von blühenden, jungen Menschen jüdischer Abstammung mit dem Hinweis “ermordet”, “gefallen”, “im Konzentrationslager verstorben”, oder dort, das weiß ich noch, wie mich das gebeutelt hatte: “tué par les Barabares”, von den Barabaren getötet… Wieviel Verachtung, Ohnmacht, Pein nicht in diesem Nebensatz steckten, mein Gott, wie hat mich das aufgewühlt… Und woanders dann, bei den moderneren Stätten, all diese wunderschönen aus feinster Keramik gefertigten Kränze mit Darstellungen bunt glasierter Veilchen, Rosen, Hortensien, naturalistisch, farbenfroh, beständig, eine Alternative zu frischem, rasch welkenden Blumengepränge – leider wird diese Art des Grabschmucks, zumindest in der faszinierenden Qualität und Schönheit, nicht mehr produziert, wie ich später nach Recherche feststellen mußte. Der graue, kalte Sprühregen war vergessen, während ich auf menschlichen Pfaden wandelte, aufgebracht, traurig und doch ungemein dankbar. Alles hat seine Zeit. Für diese Erkenntnis muß man nicht nach Chaumont Haute-Marne fahren; ich bin froh, dort ein paar unerwartete Eindrücke gemacht haben zu dürfen, mit denen man seinen Erinnerungsschatz anreichern kann.