162 Berührung

162 Berührung

Landsberg, März 2021.

Ohne die Reisen wäre ich nicht der Mensch geworden, der ich jetzt bin.

Bei vier Grad kalter, Wind durchzogener Luft saßen wir in einem Tippi. Es war grobschlächtig gebaut, wirkte äußerst instabil. Die Äste, die es bildeten, krümmten und wanden sich in verschiedene Richtungen, große Lücken aussparend, durch welche der Graupel rieselte, gefrorenes Konfetti auf unseren Kapuzen. Gerade so hatten wir uns durch die Eingangsöffnung zwängen können, gerade so fanden wir mit angezogenen Knien Platz darin. Hungrig bissen wir in die mitgebrachten Brote. Gelegentlich schrie ein Greif über unseren Köpfen, ansonsten gehörte die Welt der Stille.

Einem halbblinden Spiegel gleich lag der Fluß in der Tiefe unten; unser Blick querte ihn nicht, sondern fiel mit seiner Strömungsrichtung zusammen, weit vorne die schemenhafte Stadt treffend. Es handelte sich um ein fast terrassenförmiges Hochufer, sodaß die Rastbank teilweise auf gleicher Höhe mit den kahlen, silbrig-bronzenen Buchenkronen lag, als begingen wir einen Wipfelpfad. Der Tee in den quietschbunten Plastikbechern dampfte verhalten in den grauen Wintertag hinauf, der aufgelockert wurde von blühendem Seidelbast und versteckt sich duckenden Leberblümchen.

Das aufgestaute Wasser in der Teufelsschlucht besaß trotz der geringen Lichtverhältnisse, trotz der schweren, phlegmatischen Wolken eine Leuchtkraft aus sich selbst heraus. Glasklar und zugleich intensiv petrolen, ruhend und kraftvoll sprang es einen an mit seiner unfaßbaren Schönheit. Blank polierter Achat, zerkrümelt von sich bewegenden, überschneidenden Kreisen, die die Regentropfen auf die Oberfläche prägten.

Ein kleines privates Schloß, dessen Grundmauern auf das 10. Jahrhundert und dessen Dachbalken auf 1494 zurückzudatieren sind, thronte weiße Tünche blätternd neben einer pittoresk restaurieren, sahnegelben Votivkirche, das Türmchen Schieferschindel gedeckt, die Fenster prächtige Rokokoaugen. Das dazugehörige, ehemalige Gemüsegärtlein verwilderte, Obstbäume schossen, Beetumfassungen waren Moos umschlungen, Schneeglöckchen und Winterlinge tanzten in Teppichen wuchernd über die Grasnarbe.

KZ-Friedhof , heißt es auf einem unscheinbaren Schild mitten in der Pampa dörflicher Äckermonokulturen, tagein, tagaus lakonisch vage auf etwas zeigend, das man gar nicht erkennen konnte von der Straße aus. Der Feldweg war matschig, er schmatzte unter unseren Schritten. Die Sonne hatte sich doch noch hervorgewagt, sich zögerlich in den stetigen Wind mischend. Lange war nichts zu sehen als Furchen und erste keimende Saat und die erhöht angelegten Bahngleise einer Zugstrecke, bis wir plötzlich vor einem fremd anmutenden Gebilde standen, zwischen Feld und Gleisbett gequetscht, gemauert, umfriedet, eine kleine lapidare Fläche, fein gekiest, mit Cotanaester bedeckt. Auf der großen, vertikal aufgerichteten Gedenkplatte waren ein Judenstern sowie hebräische Schriftzüge in gegossenen Lettern angebracht. Ein paar Steine hatte man davor aufgetürmt, so wie Wanderer es zum Zwecke der Wegmarkierung tun. Mückenscharen schwirrten im goldenen Abendlicht. Selten hatte ich an einem derart verlassenen Ort gestanden, öde nicht, aber auf unbegreifliche Weise leer. Zwei weitere solcher Mahnmale fanden sich in geringem Abstand, leicht in der Größe variierend. An einem zotteligen Gestrüpp irgendwo entdeckten wir eine Informationstafel: daß hier 150 KZ-Häftlinge rasch bestattet worden seien, die per Zug von Kaufbeuern nach Dachau hatten transportiert werden sollen und welche vier lächerliche Tage vor Kriegsende von den Alliierten – versehntlich für Militär gehalten – zerbombt worden waren.

 

Ohne die Reisen wäre ich nicht der Mensch geworden, der ich jetzt hier in dieser Sekunde bin. Aber dieser Halbtagesausflug direkt vor meiner Haustiere mag es belegen: berühren lassen – von Schönem, von Tragischem, von Witterung, Natur, vom Leben selbst – berühren lassen kann man sich überall, jederzeit. Man muß bereit sein dafür und sein Herz aufsperren.

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