108, Teil IV: Wie ich da Vinci die Sache mit den Chloroplasten erklären wollte

108, Teil IV: Wie ich da Vinci die Sache mit den Chloroplasten erklären wollte

Norwegen, September, 2019.

Gewiß werden die jüngst gelesenen Biographien der Kunsthändler Heinz Berggruen und Paul Rosenberg mich beeinflußt haben.

Der Berg jedenfalls erhob sich vor mir als grauer Koloß, kompakt, mächtig, schweigend. Die Binnenstruktur seines Gesteins bestand aus unzähligen flächigen Graphiken, aus zweidimensionalen Rechtecken, Quadraten, Dreiecken, aus durcheinandergewürfelten Balken und Streben. In der Einheitlichkeit des Anthrazits entdeckte ich Schattierungen von Weiß, Braun, Violett, Grün, die das Statische auflösten in Splitter und Kristalle; Felsbrocken lagen verstreut wie liegengelassene Bauklötze von Riesenkindern. Unablässig raunte und brauste ein Wasserfall, ohne je zu donnern, auch er zerbarst in seine Einzelteile. Ich stand vor diesem Berg, der zu atmen schien, ohne sich zu rühren, ein Berg, der die Haut eines Reptils übergestreift zu haben dünkte, und zum ersten Mal überhaupt verstand ich Cézanne, verstand ich Picasso und Braque. Nie war mir die Kunstrichtung des Kubismus so klar und einleuchtend gewesen wie in jenem Moment. Zu meinen Füßen nickte einsam ein Büschel pinker Nelken im schneidenden Wind. Woanders erkämpfte sich die eine oder andere neongrüne Tromsö-Palme ihren Platz – so werden die Engelwurze dort zu meinem grenzenlosen Amüsement genannt. Nebel verdichtete sich, sank tiefer, spitz-beißender Regen setzte ein. Ich nahm Abschied vom Berg, um den anderen beim Bestücken der Rentiere zu helfen.

Die Kunst durchdringt mich, sie verfilzt mit der Natur, das eine ohne das andere existiert nicht in meiner Wahrnehmung. Der breite Fluß jagte vorüber, sich an großen Felsen teilend, über kleinere hinwegschwappend. Strudel formten sich, wirbelten vorüber, neue Posen einnehmend, anderen Choreographien gehorchend. Es schimmerte zart türkis und jadefarben auf, durchsichtig in Weiß und Bernstein. Leonardo da Vinci, der gelehrte Universelle der Renaissance, trat neben mich. Er runzelte die Stirn, gelegentlich brummend. Er studierte die Furchen und Linien des sich unablässig wandelnden Flusses, um deren Gesetzmäßigkeiten zu enträtseln. Ich kam nicht hinter das Geheimnis, was ich mir verzieh. Ein grellgelbes Band hing am Ufer aufgespannt: eine dichte Phalanx herbstlich getönter Birken. Ich wollte da Vinci die Sache mit den Chloroplasten erläutern, mit den sich umkehrenden Baumsäften, Dinge, deren wissenschaftliche Entschlüsselung ihn entzückt hätten und die heute zur Gemeinbildung zählen (sollten), doch als ich mich umwandte, war er verschwunden.

Es lagen Kompositionen ausgebreitet wie Geschenke. Die Kamera klickte und klickte, die Linse entschloß sich kaum, welches Motiv zuerst zu bannen. Ein runzeliges Pilzdach an einem expressiv gemaserten, abblätternden Stamm. Rote Beeren wie Glasmurmeln. Alternde Vegetation, in einen Feuerrausch gesteckt, Nuancen von Rosé über Orange zu Purpur, darin glänzend Minz- und Lindabstufungen. Farne sprangen einen an, saftig, fast grob, reckten sie in schallendem Hellgrün einem ihre Wedel entgegen. Die Texturen ordneten sich unter, alles stand unter dem Bann eines Leuchtens, einer Farbe, Gott hatte heftig in seiner Pallette herumgefuhrwerkt und ein überkräftiges Aquarell hinterlassen. Es roch nach Erde, Wald, Bachläufen: ich war zu Hause. Die Luft strömte tief in die Lungen hinein. Da war sie wieder, die Freiheit, Freiheit, die aus Schönheit und Dankbarkeit erwächst. Kurz, ganz kurz nur, drängte sich mir etwas anderes auf, das Nagen und Bohren: Warum hat sie das  weggeworfen? Ich reckte mein Kinn. Ich genoß es mit vollen Zügen, mein Sein, das Leben und all die Dinge, die viel, viel größer sind als wir und die uns trotzdem so leicht zugänglich sind, wenn wir uns bereit machen dafür.

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