101, Teil II: Wilder Lavendel

101, Teil II: Wilder Lavendel

Bafasee, April 2016.

Während mancher Reise dominiert die Handlung, das Geschehen, eine spannende oder amüsante Anekdote, die sportliche Tat, das besonders gelungene Foto, die prägende Begegnung, der seltene Natur- oder Kulturschatz, die grandiose Seelenregung, zuweilen auch die bittere Enttäuschung über gewisse Gegebenheiten, sei es das Wetter, die Tourgestaltung, seien es die Betrügereien unterwegs, die einen immer wieder ereilen. Andere Reisen verbleiben eher als inneres Bild im Gedächtnis, das es zu schildern gilt, ein aus Worten zusammengesetzter Film, der Impressionen reflektiert. Zu letzterer Sorte zählt die Tour in die Region des Bafasees, ein Süßwasser-Binnengewässer mit relativ hohem Salzanteil, das ursprünglich in das Mittelmeer mündete, von grünen Bergen umstanden, der Latmos. In diesem Ökospherenreservat lebt man agrarwirtschaftlich überwiegend von den Erträgen der zum Teil mehrere Jahrhunderte alten Olivenbäume, vom Fischfang, der Imkerei. In einem positiven Sinne schien die Zeit ein wenig angehalten dort, ein Eindruck, den die unzähligen, in der Landschaft verstreuten Ruinen aus wechselnder Ziegel- und Steinbautechnik sowie die prähistorischen Malereien, versteckt unter Felsvorsprüngen, noch verstärkten.

Vor allem duftete es nach Lavendel, der büschelweise in Gruppen wild wuchs, umschmeichelt von makellosem Sonnenlicht, das die ätherischen Öle in die Luft löste, ein unablässiges Fest für die Nase, man atmete automatisch tiefer ein, um sich kein Molekül entgehen zu lassen. Zudem blühten die Zistrosen an den Sträuchern, hellpinke Crepepapierscheiben, plissiert, heiter, von denen wir eine oder zwei Hand voll pflückten, da sie einen krautig-bitteren, äußerst gesunden Tee ergeben. Wiesen, so weit das Auge reichte, waren bestanden mit rotem Mohn und weißer Schafgarbe, mit gelbem Klappertopf und blauviolettem Natternkopf, eine überbordende Schönheit, in der es zirpte und summte, brummte, zuckte und piepte; Grashüpfer sprangen keck auf, Bienen befanden sich geschäftig auf Nahrungssuche. Bröckelnde Gewölbe ehemaliger Klosterbauten ragten aus der ländlichen Vegetation auf, einen Schopf aus Halmen tragend, in den Ritzen gediehen kleine Bäumchen.

Unsere Tageswanderungen von je etwa 25 Kilometern trugen uns Hänge hinauf, die Blicke boten auf die tiefliegenden Täler, kleinteilig, fast zersplittert, voller Blöcke, als habe ein Riesenkind ein Chaos aus Bauklötzen hinterlassen, alles überzogen von einer chlorophyllenen Haut und bunten Tupfen, am Horizont dann der lang gestreckte, große See (von 15 Kilometern Länge und 5,5 Kilometern Breite), der eher wie ein Meer anmutete, fahl-weißblau in Dunst gelegen. Diese immense Weite, diese Leichtigkeit, die Luftigkeit in der Aura überraschten mich, die alten, nostalgisches Flair versprühenden Relikte der einst ausgeprägten mönchischen Kultur, die in Braun-Ocker-Violettönen ersonnenen, fast Runen oder Hieroglyphen ähnlichen, gemalten Zeichen, die die Witterung einem Wunder gleich überdauert haben und angeblich Fruchtbarkeitssymbole sowie werdende Mütter darstellen (wenngleich man die Schwangeren unschmeichelhaft durchaus mit abstrakten Ziegen verwechselt als Laie). Wir stiegen oft steil an, folgten engen, gewundenen Pfaden, um wiederholt auf einer Römerstraße zu landen, bequem zu belaufen, noch immer, kaum zu glauben, nach beinahe zwei verstrichenen Jahrtausenden seit der Errichtung. Es rahmten uns schwarze Pinien, zeigten sich immer wieder Ansammlungen hölzerner, in Pastelltönen gefaßter Bienenstöcke aus rechteckigen Kästen; wir passierten winzige Dörfer, deren Bewohner auf Nachfrage des Guides gegen Bezahlung Salbeitee aus frischen Blättern feilboten, stark gezuckert und in Gläsern serviert, in die wir Deutsche eher Schnaps füllen würden, so zierlich und klein fielen sie aus.

Mitten im Nirgendwo des Berges an einer Weggabelung tat sich plötzlich ein Friedhof auf, bestehend vielleicht aus einem Dutzend Gräbern, angezeigt nur durch grob behauene Steinsäulen, Flechten bewachsen, an Kopf- und Fußende der ansonsten unscheinbaren Ruhestätte errichtet. Als Schmuck hatten die Toten sich selbst Blumen hergezogen: der obligatorische, wundervolle Lavendel, der elegant wie unpretentiös das felsige Erdreich zierte. Von diesem Ort, vielleicht weil er wie vergessen dort ruhte, gebettet in Stille und Sonnengleißen, fühlte ich mich tief berührt.

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