100, Teil I: Abend im Dorf
Bafasee, Türkei, April 2016.
Das eben gewaschene Haar fiel mir feucht über den Rücken, während ich an dem roh gezimmerten Tisch im ersten Stock der Pensionsveranda saß, welche einen begrünten, Baum bestandenen Hof umschloß. Der starke Duft der Zitronenblüten begleitete mein Schreiben, das ich zur Reflexion immer wieder unterbrach, auf die rosa lackierten Nägel kuckend – ein Schmuck, den ich etwa alle drei Jahre auftrage und der eigentlich gar nicht zur ausdauernden Wanderin passen wollte, die ich hier in der westlichen Türkei war. Mich kleidete zur Trekkinghose ein weißes Top, bedruckt mit einem bunten, aquarellierten Ganesha-Elefanten. Ich genoß die warme, samtene Sonne, wie ich auf das Essen wartete, das allabendlich von der beleibten Hausherrin persönlich gekocht und serviert wurde, eine wahre Matrone, die mit Argusaugen darüber wachte, daß man ihre überbordenden Speiseschätze auch ja zur Gänze vertilge, ein Ding der Unmöglichkeit für uns drei eher zierliche Gäste: frittierter Blätterteig mit Frischkäsefüllung, gegrillte Paprika und Zucchini, ausgebackene Aubergine, eingelegte Weinblätter, Reissalat an reichlich Dressing und so weiter, frisch zubereitet aus regionalen Zutaten, gut gewürzt aber definitiv insgesamt zu fettig…
Ein Esel schrie ohne Unterlaß, der an die Kette gelegte, schwarze Hund fiel bellend darin ein. Das alte, urige Dorf wand sich einen Hügel hinauf, die gemauerten, hell verputzten Gebäude waren dunkel holzgedeckt und mit unzähligen Tontöpfen verziert, in denen lauter rote Amaryllis wuchsen. Ein Hahn stolzierte majestätisch mit imposantem Gehabe über die buckelige Straße, was keinerlei Eindruck auf die gescheckten Hennen machte. Kätzchen dösten unter Karren versteckt vor sich hin, vom Abendschein gestreichelt. Die Anwohner hielten Abstand zu uns, die wir den neigenden Tag nutzten, einen kurzen Erkundungsgang zu unternehmen, doch schauten sie uns verstohlen hinterher, als wir sie nickend gegrüßt hatten. Wir waren momentan die einzigen Touristen im ohnehin eher verschlafenen Örtchen, da Erdogans Politik eine abschreckende Wirkung auf deutsche Urlauber hatte – perfekt für uns, die wir trotzdem aufgebrochen waren. Direkt hinter dem letzten Haus lagen auf einer hüfthoch mit Gräsern bewachsenen, mit entzückenden Knabenkräutern bestückten Wiese antike Architekturfragmente verstreut, ein durchaus klassisch-arkadisches Bild, denn die dazwischen aufragenden knorrigen, dicken Olivenbäume mit ihren dunkelgrün-silbern glänzenden Blättern befanden sich im rotorangen Scheinwerferlicht der untergehenden Sonne, während schwere Wolkenbänke den in eine laue Nacht übergehenden Himmel dominierten. Ein zierlicher Kauz thronte auf einem Strommasten. Dieser Platz barg ungeheuren Frieden, verströmte eine angenehme, harmonische Energie, die jäh von einer aufgeregt plappernden Frau unterbrochen wurde, die hektisch an ihrem zu schnell aufgesetzten Kopftuch herumfummelte, welches immer wieder zu verrutschen drohte. Sie wedelte mit einem Korb voller Tand vor unseren Gesichtern herum, als seien wir extrem kurzsichtig, und pries ungeachtet unserer nicht vorhandenen Türkischkenntnisse vehement Ketten und Armbänder aus Plastikkügelchen und winzigen, echten Muscheln an, hartnäckig-penetrant, ohne daß wir verdeutlichen konnten, kein Geld mitzuführen, sodaß wir gezwungen waren, zurückzuflüchten zum krakeelenden Esel unserer Pension.