294, Teil III: Wandel

Südkorea, März 2025.
Meine Sprache ist grauenhaft. War sie es schon immer gewesen und ich verblendet-eitel, es nicht früher erkannt zu haben, oder hat sie gelitten die letzten Jahre? Ich bin nicht in der Lage, ausreichend Variabilität ins Vokabular zu bringen, es reduziert sich stets auf die Sinne, auf Adjektive und Farben. Andere Worte für Sehen? Erblicken. Schauen. Kucken. Wahrnehmen. Starren, Stieren, mit den Augen verfolgen, Erspähen, Beobachten, Studieren, neudeutsch Spotten. Das war´s weitgehend. Bei Gott, nein! War es nicht, denn Sehen – Sehen! – ist doch so viel mehr… Gleiches gilt für Fühlen, Empfinden, Spüren, für Denken, Überlegen, Reflektieren, durch den Kopf geistern, Sinnieren oder Hören, Lauschen, Horchen. Man müßte sich mit Blinden und Tauben austauschen, wie diese die Welt erfahren, tatsächlich bin ich nie persönlich mit einem solchen ins Gespräch gekommen, die alte Dame während der Konzertpause ausgenommen, die hilflos vor den Waschbecken gestanden war, nicht wissend, wo die Trockentücher zu finden waren oder die Tür hinaus, bis ich ihr den Arm bot und sie geleitete. Ihr aufrichtiger, erleichterter Dank für diese Kleinigkeit – Selbstverständlichkeit! – war derart überbordend gewesen, daß er mich beschämte und ich lediglich einen Schönen Abend weiterhin wünschte (ihr Mann hatte brav und anständig deutsch vor der Damentoilette auf sie gewartet). Jedenfalls sind es häufig äußerliche Nichtigkeiten, die enormen Wirbel, zuweilen Richtungswandel, verursachen und sie zu beschreiben schwierig da eintönig. Ich möchte es dennoch probieren.
Es fing an mit einem kurzen Luft schnappen neun Uhr abends, das Klostergelände lag bereits in Stille und Dunkelheit gehüllt. Mond und Nachtdämmer waren hell genug, ohne Taschenlampe ein paar Schritte zu tun, die mich vom Schlafquartier hinaus zur nahen Brücke führten. Die trockenen Schilfgräser raschelten in der Brise. Das Wasser regte sich nicht. Ich stand mit den Ellbogen auf die rustikalen Querbalken gestützt, mir die Gegend besehend. Mir gegenüber in vielleicht fünfzig Meter Entfernung spannte sich eine weitere schlichte Holzkonstruktion über den Bach; an ihr befestigt waren einige solarbetriebene Lampions, papierne gefältelte Kugeln, aneinandergereiht, die schwache Farbkleckse aussandten, eine Leuchtkette aus Dunkelblau, Violett, Grün, Fuchsienrot, die gespiegelt war im schweigenden Gewässer. Wolken staken gebauscht tintenschwarz am Horizont. Schwermut befiel mich, denn die Szene war sowohl romantisch als auch bedrückend. Leise schön und bittersüß, sie brachte mich von einer Sekunde zur nächsten zurück ins Jahr 2012, zurück an den nächtlichen Hafen Picos, auf die Azoren, denen nachgesagt wird, sie seien das verschwundene Atlantis, Reste davon. Ich wähnte mich damals unglücklich verliebt, einsam, vereinzelt, abgetrennt von den anderen der Gruppe, vom angeschmachteten Helden und der Menschheit überhaupt. Diese tiefe, zähe Melancholie schoß nun in die Gegenwart, von Europa nach Asien, mich umklammernd, im Gepäck das Vermächtnis meiner Schwester und all das Leid, das es birgt. Die Tränen tropften in den Bach, still wie das Klostergelände, das ruhte. Ich fühlte mich gefangen, machtlos ausgeliefert einer Erinnerung, die nicht gut tat.
Es ging weiter im südlicheren Teil des Landes, wo das kahle, quälende omnipräsente Braun plötzlich barst vor überquellendem weißen Schaum, Flor uralter Bäume, gehegt, gehütet, zu Tausenden gesetzt in Alleen und Parks. Die Kirschblüten wiesen weiße Petalen und rote Staubgefäße auf, was ihnen etwas außerordentlich verträumtes verlieh, zart und vital zugleich. Sie waren so kraftzvoll, so atemberaubend schön, daß man es nicht ihnen gerecht werdend zu schildern vermag. Die Jahrhunderte währende Bewunderung für die kurze Spanne der Kirschblüte wird selbsterklärend. Man taucht ein in ein Meer reiner duftiger Strukturen, die Leichtigkeit und Poesie aussenden. Viele Gemeinden zelebrieren die Blüte, indem sie abends für Lichtspiele sorgen, von denen sich Flaneure, Einheimische wie Touristen, bezaubern lassen können. Am Grund angebrachte Strahler beleuchten die üppigen weißen Kronen der Obstbäume mit allerlei Lichtern, die sanft wechseln, pink, blau, grün, rosa, gelb, die ineinanderfließen und die Menschen in eine Märchenwelt entführen. Kinder laufen ausgelassen herum, über das gesamte Gesicht lachend, sie laufen von Strahler zu Strahler, tauchen sich selbst in die Farbe, werden zu Marsmännchen, Prinzessinnen, pastellbunten Feen und Einhörnern. Familien picknicken auf Wiesen zu später Stunde, Paare lustwandeln, Alte wie frisch Verliebte, und Freunde bzw. Freundinnen bummeln ratschend sich umarmend die entrückenden Alleen entlang. Auch hier finden sich Brücken und Gewässer, Lampions, Reflexionen, am anderen Ufer ploppen und blinken die kreischbunten Lichter eines Vergnügungsparkes auf, Riesenrad, Achterbahn, alles pulsiert bunt und fröhlich, friedvoll. Ich bestaune die Kreativität der Illuminatoren, das Zusammenspiel Fremder in einer ausgelassenen, heiteren Menge, spüre das Pittoreske und Einmalige dieser Szenen, sauge auf, was sich an Farbuniversen vor mir auftut. Aber ich schrumpfe auf mich selbst zurück. Das Romantische um mich herum, das Miteinander der anderen, schließt mich aus. Die Lichter schwenken, tanzen, verzieren die ohnehin herrlichen Kirschbäume, die ich wohl nie wieder werde mit eigenen Augen sehen, ich beobachte mein Umfeld, die lachenden Kinder, die sich küssenden Paare, und es ist, als sei ich ein Splitter, ein Fremdkörper. Ich denke an all das, was ich nicht hatte, nicht haben durfte, haben kann, soll, dachte – was sonst – an die Schwester, trauernd zwar aber zugleich genervt, das Herz schwer und vollgesogen von Kummer, dachte an das, was nicht rund läuft daheim und an die zerbrochene Freundschaft, die 33 Jahre gewährt hatte und auf derart stupide Weise vor die Hunde gegangen war, und freilich heulte ich ein bißchen und zog betröppelt von dannen, zurück ins Hotel.
Als ich dann dort lag, im Hotelbett, das Zimmer schwarz von Nacht, nicht in den Schlaf findend, da geschah es, worüber ich versuche, hier zu berichten. Etwas sprach in meinem Kopf zu mir. Es sagte: Ich will das nicht mehr. Oh?, fragte mein nur halbwaches Bewußtsein. Genug, sagte es weiter. Es ist genug. Ich wartete ab. Sich nicht länger abquälen, das Leben leicht nehmen. Aha?, machte ich. Und weiter? Ich will nicht weiter Gefangene irgendwelcher Leute sein, die sich einen Dreck scheren. Der Held liebte dich nicht zurück? – Passt. Die Freundin hat eine ausführliche Mängelliste vorzuhalten? – Gut, geh. Die Schwester ist fort? – Ja mei, Fakt, seit bald 16 Jahren. Hast du die Kirschen gesehen? Die bunten Lichter? Die waren auch für dich, die waren für alle. Hab Freude. Zelebriere den Frohsinn. Lass das andere ziehen. Sei lebendig. Sei du. Stop jetzt! Halt! Das Baby auf der Krabbeldecke, das mit geschürzter Lippe versunken die Gänseblümchen betrachtet, das warst du. Das bist du! Jetzt, genau heute, war es das letzte Mal, daß du dich so abmühst im Angesicht romantischer malerischer Schönheit. Du darfst dich freuen, erfreuen. Du – Ich schlief ein über die Stimme hinweg, sie hatte mich eingelullt.
Entgegen meiner Annahme, die Fotografie bedeute mir nichts mehr, schoß ich ein Bild nach dem anderen, die übrigen Gruppenteilnehmer, die nur gelegentlich mit dem Smartphone knipsten, nervend, weil die Einstellung eben etwas länger dauerte als einen Fingertip. Meine Güte, was fotografierte ich! Viel und vor allem leidenschaftlich. Irgendwie, behaupte ich einfach, gelangen mir plötzlich mühelos wirklich aparte Bilder. Woher das nun rührte, vermochte ich nicht zu erklären. Vielleicht war der Knoten endlich geplatzt? Sogar schwierige Lichtsituationen händelte ich ohne Stativ auf befriedigende Art. Oder meine Ansprüche waren geschrumpft? (Eine Künstlerkollegin, wobei ich mich nicht als Künstlerin verstehe, traut mir nicht mehr zu, als den Auslöser zu drücken, das Übrige, die Bearbeitung, erledige sie dann selbst, flötete sie mir letzte Woche zu, als sie mich fragte, ob ich für eines ihrer Projekte die Fotos machen wolle, merci für das Kompliment. Die über 302.000 Instagram Follower im Vergleich zu meinem 1 plus X Leser/in(nen) geben ihr recht. Ich schmunzle gerade.)
Jedenfalls schlenderten wir über das dämmrige Gelände eines rekonstruierten Palastareals, weitläufig, in einen Park geschmiegt, einen riesigen Ententeich (eher ein gigantischer, tiefer, gemauerter Weiher) umfangend. Asiatische traditionelle Bauten mit ihren Schwüngen und ausladenden Formen, den Verzierungen und besonderen Dächern besitzen stets etwas anheimelnd-poetisches. Das Gold glänzte übersinnlich, der Zeit – jedweder Zeit – enthoben. Wieder beobachteten wir den Sonnenuntergang gemeinsam mit Trauben fröhlicher Menschen, die sich bewegten, als seien sie Brandung zerworfene Gischt, amorph-tanzend. Die blühenden Kirschbäume waren wie fast überall im Land von bunten Spots in Lichtdecken getüncht, die sie der Realität, dem Alltag enthoben. Ich gab der Erinnerung keine Chance. Meine Zeit ist jetzt. Ich trat sie beiseite, die Schwermut, blies sie fort, die Wolken der Traurigkeit. Und wie durch ein Wunder gehorchten sie alle, Schwermut, Traurigkeit, Erinnerung. Ich schaute, betrachtete, ich genoß. Ich genoß die Kirschblütenbäusche, das golden und rot schimmernde Hauptgebäude des ehemaligen Palastes, die schwarz getuschten Kiefersilhouetten, die Reflexionen auf dem Wasser, die Enten und Gänse; genoß die Familien mit kleinen Kindern, die Alten, die Schülergruppe aus den USA, die schwelgenden Paare, sogar die Instagram-Poser genoß ich, deren Freude an Selbstdarstellung vor phänomenaler Kulisse, denn das war sie: außergewöhnlich! Die Atmosphäre ergoß sich über mich, mich teilnehmen lassend am Leben, an der Freude. Es war schön um mich herum, nur schön, ohne jeden Anflug der Melancholie, der Ausgegrenztheit.
Davon handelt dieser Blogbeitrag: vom unscheinbaren Wandel in meinem Inneren, den zu kultivieren ich geschworen habe. Denn im Grunde bin ich ein fröhliches Wesen, immer gewesen, ein Gänseblümchen verzücktes Baby. Die Dunkelheit war von außen gekommen, von anderen. Du schickst mir nach 33 Jahren der selbstverständlich aufopfernden Treue und Hingabe eine Mängelliste infantiler Nichtigkeiten? Du bezeichnest mich, auch vor Dritten, als Stalker? Du gehst ohne jeden Abschied nach bald zwei Dekaden des Terrors in den Tod? – Bitte sehr, alle miteinander. Unumstößliche Fakten, wie so vieles seit 2020. Die Freude hat mich trotzdem erreicht, ist mir in die Seele gesunken. Ich war gelöst an diesem Ort in Korea, heiter und friedlich. Ich verschmolz mit den Kirschblütenlichtern und Wasserspiegelungen.
Ich war dort. Ich war gut.
In diesem Moment war ich gut und glücklich.
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