270 Licht
München, März 2024.
Wenn man mir vor zwanzig Jahren, oder besser noch fünfundzwanzig Jahren, gesagt hätte, daß es so etwas wie PMDS gibt, mein Leben wäre – ohne jedwede Übertreibung – komplett anders verlaufen. Es ist keine Bitterkeit in den Worten, eher eine Nüchternheit, vermengt mit Erleichterung. Während einer halbstündigen Reportage, ich klebte mit offenem Mund vor der Mattscheibe, fassungslos, ergab plötzlich alles einen Sinn, von einem Moment auf den nächsten. Am meisten froh bin ich darüber, daß ich nicht an der Fehlbarkeit meines Charakters gescheitert bin, wie ich immer angenommen hatte. Daß ich nicht das Monster bin aus Dr. Jekyll und Mr. Hyde, ein Vergleich, den fast jede Betroffene heranzieht lange vor einer Diagnose; es zumindest nicht aus Wesensschwäche bin. Ich will auch gar nicht lang über Krankheit bzw. Dysfunktion reden und das große Was wäre gewesen, das nun einmal vorbei ist.
Der vermehrte Regen hat ein Stück weit den Garten gerettet (für vieles andere: Wald, Naturschutzgebiete, Alleebäume, Heckenpflanzungen ist es zu spät gewesen; vertrocknet, vom Sturm entwurzelt, unter der Schneelast zusammengebrochen, den Staatsforsten zum Opfer gefallen oder dem faul gewordenen Dörfler, dem die gefällte alte Birne nun keinen Handgriff an Pflege mehr abverlangt). Der Regen hat ein bißchen Nostalgie zurückgebracht, buntes, saftiges Kindheitsflirren. Man kann den Spaten in den Grund stechen, ganze Krumen aushebeln, durch die die Würmer sich winden, rosa und glänzend. Der Boden ist nicht länger undurchdringlicher Beton, kein verhährtetes Staubgemisch, verbacken, feindlich, unbrauchbar, nein: jetzt ist das Erdreich wieder locker, durchfeuchtet und voller Leben, eine gute Ausgangsbasis, um Neues zu setzen, um zu gestalten und zuversichtlicher in die Zukunft zu schauen.
In der neongrünen Trauerweide summen die Bienen, ein ausgestorbenes Geräusch, ganz ungewohnt geworden und doch so ur-vertraut. Die Narzissen und die Schlüsselblumen bilden Teppiche der Heiterkeit, zitronenfarben und gedeckt-buttergelb. Es knospt und treibt, wohin man sich wendet, auch Vorboten der Stauden, der Sommer- oder gar Herbstschönheit, es beginnt mit einem aufstrebenden Stiel, einer winzigen sich entblätternden Rosette oder einem ersten schwellenden Laub. Wer Pflanzen lesen kann, sieht an diesen Stellen der Beete keine Lücke oder Leere, sondern freut sich auf die Pracht der späteren Monate. Nur die Dürre, die darf nicht wieder zuschlagen – man merkt, meine Sorge und Befürchtungen halten an. Trotzdem bin ich ruhig jetzt, wie ich im Taubengurren, Starengepfeife, Amseltschacken, Spatzengezeter sitze.
Im Juli werde ich ein paar Tage nach Gent reisen, erstmals anläßlich eines Konzertes begebe ich mich in eine andere, d.h. entferntere Stadt. Für Ausstellungen und Museen habe ich das schon oft getan, auch für ein Neumeier-Ballett (vgl. Beitrag 260), aber nie, um Musik zu lauschen, live. Ich wollte wissen, wer das ist. Wollte wissen, wessen Kraft mich aufgerichtet hat in einer Zeit, in der das Hirn nichts als unrettbare Schwärze kennt. Wollte die Stimme durch ein Mikrofon hören, synchron mit meiner Präsenz, und einen leisen Blick erhaschen auf einen Künstler, dem ich (genauso wenig wie Kit Armstrong oder Marina Abramovic) nie die Fragen stellen werde: Can You see me? (vgl. Beitrag 269)
Wohin führt dieses etwas, das hier Blog getauft und vieles ist, nur eben kein Blog? Verfolgt es ein Ziel? Hinsichtlich einer Absicht lautet die Antwort klar und dezidiert nein. Aber wenn ich mir die Kernpunkte ins Gedächtnis rufe, Reisen, Fotografieren, Stille und sie in die greifende Klammer Schreiben setze, dann hat es vielleicht doch seine Berechtigung.
Ein umfassendes Verständnis von Stille – Stille, die vom Orkan PMDS davongeschleudert und auseinandergerissen wird allzu oft, unterstützt vom Medienhorror -, eine breit verstandene Stille ist und bleibt das höchste Gut. Eine Stille, die lang genug anhalten mag, daß ich fünf Monate verspätet bald von Japan erzählen werden kann.