245, Teil II: Shit weather

245, Teil II: Shit weather

Cumbria/England, April 2023.

Der alte Friedhof lag auf dem Weg rauf zum Leuchtturm. Wir passierten flamingopinke Camelienblüten und raschelnden Bambus, irgendwie unvermutet mitten im Küstenörtchen Ulverston, Startpunkt der 130 Kilometer Fußmarsch durch Nationalparks, Dörfer, Viehweiden, Seeflächen, Wälder bis nach Carlisle. Ich springe zurück, atme rasch die dezent-milchene Märzsonne Strombolis, stehe vor dem ummauerten Gärtchen, in dem weiße, ineinander verzahnte Schalen auf dem üppigen Strauch gepinnt sind, Chanelblumen. Mit dem nächsten Blinzeln grüßte die Gegenwart, Nordwestengland, die Gegenwart, die sogleich wieder verwischte, als wir das Areal betraten, auf welchem kreuz und quer, schief und scheel, in unterschiedlichsten Größen die Grabsteine aufragten, versinkend in saftigem, hohen, ungezähmten Gras und beinahe unverschämt heiteren Osterglocken. Ein gigantischer Baum lehnte mit seinem Hauptast parallel am Grund, die Zweige knorrige und runzlige graphische Kunstwerke, einen natürlichen Rahmen bildend für eine Szene der leisen Anmut. Ich entzifferte vage, Flechten verkrustete Inschriften aus dem 18. Jahrhundert, die mich sehr bewegten. Wie mochte es möglich sein, daß eine Fremde nach all dieser verflossenen Zeit noch Mitgefühl aufzubringen imstande war für Menschen, von denen sie nichts nichts nichts wußte, als daß sie existiert hatten lange vor ihrer selbst? – Es begann, heftig zu regnen, was uns nicht hinderte, den Hügel weiter anzusteigen, der in Cocosduft gehüllt war, welchen die gelben Ginsterbüsche verströmten. Hoch oben über unseren Kapuzen kämpften mehrere Möwen im jähen Wind, der in ordentlichen, stoßartigen Böen blies und uns zuweilen beinahe von den Füßen riß. Es dauerte nicht sonderlich lange, bis wir den grazilen, hell getünchten Leuchtturm erreichten und aufs verhangene, diffuse Meer blicken konnten – es würde dies der einzige Kontakt bleiben damit während unserer Tour; eine Tour, die ich mit einem treuen Gefährten unternahm, jemand, der meine Launen erträgt mit stoischer Gelassenheit und pragmatischem Humor, der mir über steile Passagen und breitere Bäche hinweghilft, ohne zu murren und der auch nach mittlerweile fast exakt zehn Jahren noch auf Reisen geht mit mir, die weiß Gott nicht immer leicht sind.

Zwei lange Tage würde der Regen uns erhalten bleiben, die ersten vierzig Kilometer in Schlammwüsten verwandelnd, durch die die Schritte schmatzten und platschten und in denen der Dreck aufspritzte bis heran an die Knie, sodaß ein entgegenkommender Brite, der seinen Hund ausführte, uns ansprechen würde nach einer sorgenvollen Musterung unserer erbärmlichen äußeren Erscheinung: “Are You okay? – This is a shit weather!” – Wir würden ganze Etappen der schneidenden Kälte wegen mit den Händen unter den Achseln wandern, nach einer einzigen Stunde trotz Outdoorgewand bereits komplett durchnäßt bis hin zu Unterwäsche, Socken, Bergstiefeln. Eisgraupel würde uns ins Gesicht geschleudert und das Navigieren durch schlecht beschildertes Gelände anfänglich noch eine kleine Herausforderung sein, ungezählte Umwege und x-extra Kilometer bescherend; wir würden die ersten von etwa einhundertfünfzig Weidegattern öffnen und schließen, verunsichert über Privatgrund latschen, direkt an Kuhställen und Wohngebäuden in Alleinlage vorbei. Kurz: wir würden unter denkbar schlechtesten Voraussetzungen den Trek beginnen, ohne uns besonders daran zu stören, denn beide hatten wir eine Routine entwickelt im Laufe der dutzend gemeinsamer Touren, und beiden war uns das Klischee, war uns der Weg das Ziel, ungeachtet der unwirtlichen Witterung.

Blau und rot farbmarkierte Black Face-Schafe starrten uns käuend entgegen, die Lämmer mit den Schwänzchen wackelnd und sich niedliche Wettrennen auf den endlosen, freien Weiden liefernd, Weiden, die die deutsche agrarwirtschaftliche Tierhaltung beschämen. Aus nebelschwangeren, abgelegenen rostroten und neongrünen Mooren stoben aufgeschreckt die Fasane, urige Laute ausstoßend. Riesige Ilexbäume, übersät mit winzigen kirschenen Murmeln, taten sich auf, später in Wacholder übergehend. Selten war mir ein Landstrich derart abwechslungsreich und verschiedenartig erschienen, ich genoß jeden einzelnen Kilometer, wie ich überhaupt das anhaltende, konstante Gehen genoß, bei dem sich die Hüften, die Oberschenkel und Waden verbanden mit Bauch, Becken, Po, ein Gehen, das das Hirn in einen anderen Modus wechselte, wach und ruhig zugleich, bei dem das Denken in einen Flow geriet und Träume sich in die Wahrnehmung schlichen, wo Erinnerung und Assoziation zu neuen Ansichten inspirierten, einem Ideenimpulse einflüsternd, und wo man stumme Gespräche führte: mit sich selbst, mit Verstorbenen oder auch Freunden, so weit entfernt und doch omnipräsent, als trüge man sie spazieren.

 

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