240 Schostakowitsch
München, März 2023.
Es war während einer Runde, die auf einen Weg zwischen Waldrand und Acker führt; die Felder wiederum steigen an zu einem Hügel, ein sanfter Schwung in der Landschaft, die in der Ferne Spielzeughäuser birgt. Es blühte malvenpink der Seidelbast, zierlichste, schmale, fast klägliche Sträucher von extremer Giftigkeit. Ich mußte die Kapuze meiner Jacke festhalten, damit sie mir nicht vom Kopf geweht wurde, es war kalt, naß, ungemütlich, beinahe stürmisch, eine Witterung, die mir mein Hund wenig verzeiht. Gerade war ich aus dem Forst hinausgetreten, als ich ein Rudel Rehe gewahrte, fünf Tiere, auf dem Rain äsend – im nächsten Moment schon waren sie aufgeschreckt, stoben auseinander und jagten den Hügel hinauf, oben den Kamm entlangziehend, lauter weiße, wackelnde Flaumpopos vor bedrohlich anmutenden Wolkentürmen. Der Wind peitschte den Regen vor sich her, sodaß er in wilden Wirbeln durch die Luft flog – genauso hätten es die japanischen Meister in ihren Holzschnittbildern festgehalten, eine prosaische Szene. Alltäglich und martialisch zugleich, lautlos und dennoch tönend.
Daran mußte ich denken, als ich einmal mehr in dem intimen, klassizistisch-romantischen Konzertsaal des Münchener Prinzregentheaters saß. Es wurde Dmitri Schostakowitsch gegeben, eine meiner persönlichen Neuentdeckungen der letzten Zeit – wobei ich musikalisch ja wenig bewandert bin. Man hatte die stuckierten Säulen in das hoch angesagte Valentinofuchsia getaucht, was dem Raum einen modernen Twist verlieh; ein paar Leuchten, ein kleiner farblicher Bruch, und schon wirkte alles verändert, neu. Man begann mit dem Adagio und Allegretto für Orchester und ging später zum Klavierkonzert Nr. 1 c-Moll für Klavier (Claire Huangci) & Trompete (Jeroen Berwaerts) op. 35 über. Die ersten Takte stiegen zum üppigen Deckenfresko auf – binnen Sekunden breitete sich Gänsehaut aus auf mir, am Hals, auf den Wangen, in der Seele sowieso.
Schostakowitsch ist keine gefällige Musik, sondern eine dissonante, fordernde, ja: herausfordernde. Sie ist voller Spannung und Steigerung, voller Drama, Gewalt, die abrupt in ungeahnte Harmonien umspringt, einen direkt an die Himmelspforte bringend, und sofort wieder zurück in die Hölle vorstoßend. Man fühlt sich gelegentlich an Hitchcock erinnert, an nervenaufreibende Thriller. Aber der beste Vergleich ist der zu einem Gewitter: eine Naturkraft, eine Licht- und Geräuschexplosion, fegender Wind, ertränkender Regen im Wechsel mit Lichtstreifen, die durch die Wolkendecke brechen. Ich saß also frisiert, herausgeputzt, geschmückt und geschminkt allein im Publikum auf meinem Lieblingsplatz – dritte Reihe Mitte links, Sitz 83 -, die Augen geschlossen, lächelnd oder die Stirn runzelnd, überzogen von Gänsehaut und wohligen Schauern, wie immer verwundert über die eigentliche Unmöglichkeit ob darüber, was zwei dutzend Spielende da gemeinschaftlich aus ihren Instrumenten zaubern, sinnierend, genießend, in den Wald katapultiert, an dessen Saum fünf Rehe auf einen Hügel flüchten, besprengt von Regenwirbeln, wie van Gogh sie nicht hätte ungezügelter, roher malen können.