236, Teil II: Alte Geister
Sizilien/Stromboli Februar/März 2023.
Selten überfielen mich während einer Reise so viele Flashbacks anderer Touren: war es der Abschied von einer Lebensphase, der sich da ankündigte? Lag es an der Kombination zweier Urgewalten, Ozean und Vulkan? Die Kälte hatte ich mitgebracht von daheim, sie ausgebrütet hier, die die Schwerkraft überwand, sämtliche physikalischen und physiologischen Gesetze, und die vom Inneren hinaus zu den Extremitäten strömte, zu den Händen, die gehalten werden wollten, wo es längst keinen Halt mehr gibt.
Fort war sie gewesen. Ich hatte geglaubt, sie ruhe endlich, aber Chaplins und Churchills Schwarzem Hund gleich hatte sie raffiniert auf der Lauer gelegen und abgewartet, bis die Beute sich in Sicherheit wähnte. Der alte Walnußbaum, das letzte, das sie gesehen, von dem sie geschrieben hatte, pflanzte sich auf zwischen den erodierten, verlassenen Weinterrassen eines äolischen Inselvulkans, mitten zwischen filigranem, weiß blühenden Affodill und neongelbgrüner Euphorbie aufragend. Sie war die zähe, orangerote Lava, die der Berg im samtenen Blau einer frühen Nacht ausspieh auf die Flanke, Atem gewordener Stein, unter Grollen aufspritzend, Feuerwerksbahnen bildend, glühende Kohlestücken wirbelnd, sich zäh ergießend in weichen, ausgreifenden Klauen und erlöschend. Sie war der Geruch des trockenen Riedgrases, durch das der Wind rieselte hinein in meine Ohren, mir das Haar über das Gesicht kitzelnd. Sie war in den Fährnamen, Laurana und Sofia, von allen Namen diese beiden, die unseren in leicht abgewandelter Form. Sie war das Glitzern auf dem Schnabel einer Möwe, die aus einem der am Strand verstreuten bunten Fischerboote Regenwasser trank, war das Rollen und Klappern und Knistern der vom Meer bewegten Steine am Gezeitensaum, war das schwappende, glucksende Petrol der Hafenmole. Sie war die Frage, was das schönste gewesen sei, das ich je gerochen habe: der Duft von Freiheit, grenzenloser Auflösung, Freude und Unabhängigkeit, ein Duft, den man nicht einzig mit der Nase wahrnimmt und dem Hirn, sondern den man insbesondere auch spüren kann, hören, ein Vergehen zu etwas anderem, zu einer besseren Version seiner selbst hin. Sie war die Stille in der volkstümlichen Felsenkirche, die unscheinbare Kerzenflamme neben dem verdörrten Strauß cremefarbener Rosen. Sie war das Was/ist/Was-Hörbuch und die katzengrünen Augen eines vierjährigen Buben, in denen die Fragen an die Welt funkelten, Fragen noch ohne Bitterkeit, Fragen reiner Verwunderung, Neugierde, Staunen. Sie war der Regen, der hinabstürzte und in den Gassensteigungen kleine Bäche bildete; und die Szene eines geisthaften Straßenlichtes, das sich auf dem Pflaster spiegelte, Tor zu einer anderen Welt, zu einer anderen Seele.
Vielleicht hatten die Tarotkarten einer einheimischen Fotokünstlerin die Schleusen geöffnet, das Drübere anrufend, ohne zu ahnen, wen ihr Kaffeesatz damit herbeiriefe, Christies Poirot wäre vor Ehrfurcht erzittert. Sie war der eisige Bach, der sich durch eine Basaltschlucht schlängelte, mir über die Füße hopsend, welche im Flachen auf den rost-rot-weiß-malachitjadenen, kantigen Kieseln standen. Sie war die Orangenbäume im Plantagenhain, tropfend vom Morgenschauer, zart duftend, behangen mit köstlichen, goldenen Früchten, war das Gefiederlapislazuli eines Eichelhähers im Geäst. Sie war der Schnee bedeckte Ätna, war das wilde Pferd in mir, das die Mähne flattern lassen wollte und laufen wollte, laufen laufen laufen. Sie war das Lachen und Scherzen, das Necken und die Blicke. Sie war der Spaziergang durch beständigen Niesel, war das amüsierende Arrangement aus leeren Bierflaschen, war die abblätternde Tünche, sie war alles und überall, und ich fragte sie, wenn sie sich – was sie tat – permanent meinem Leben aufdrückte, mich bedrängend, mich verdrängend, wenn sie also diesgestalt am Leben klammerte, warum denn dann sie sich das eigene genommen hatte. Und weshalb sie nicht ein einziges Wort übrig gehabt hatte, mich aus meiner ersten Tour sprengend, die hätte ein Befreiungsschlag werden sollen aus verhafteter Kindheit, überholten Konventionen, mich aus meiner Biografie schleudernd, die unterbrochen worden war ohne je wieder wirklich aufgenommen zu werden, auch wenn man irgendwie handelte und die Zeit vorüberstreichen ließ, eine Parallelversion dessen, was hätte sein können, hätte eigentlich sein sollen, genau wie im recht mäßigen Film “Sie liebt ihn/ Sie liebt ihn nicht” mit Gwyneth Paltrow in der Hauptrolle.
Ein Leben, das man dürftig anpackt, das latente Höhen und Tiefen birgt, um das man zuweilen bewundert wird, und dem im Grunde doch alles egal ist, geworden ist und bleibt. In dem es egal ist, ob man ein Foto macht oder nicht, ob es gut gelingt oder nicht, ob man es mit anderen Menschen verbringt oder völlig allein, denn das Geschenk der Einsamkeit, das du mir hinterlassen hast, vielleicht aus gewisser Berechnung (und seien wir ehrlich: aus Bosheit) heraus, klebt wie Pech in mir, Löschkalk meiner Zukunft. Es sind keine freundlichen Worte, die ich endlich finde für dich, ich habe sie vierzehn Jahre lang zurückgehalten, aber nun gratuliere ich dir: du wolltest zerstören, warst immer neidisch auf mich gewesen, und es ist dir gelungen, du hast zerstört, zerstörst an jedem einzelnen Tag, ja, du hast gewonnen, Schwesterlein: macht es dich glücklich, dort wo du bist?
Und zugleich hat mich nie jemand auf diese Weise gemocht wie du. Ich suche nach den Menschen, die es dir gleichzutun vermögen, diese deine Begeisterung für mich, deine Anbetung, Vergötterung, nur du hast es derart inbrünstig sagen können: ich habe dich sooooo lieb! Ich weiß, du warst sehr, sehr krank, warst immer unterwegs auf dieser Grenzlinie zwischen Haß und Zuneigung als Borderliner, aber ich ziehe es vor, mich an Milow zu halten.
I couldn´t say so I sat down to write it instead/ I´m afraid if you stay away I might forget/ You´re still alive in my head
Sofie, ich werde nämlich, das versichere ich dir, mein Leben bis zum Ende leben.
At least we tried/ We´re swimming against the tide