232 Heckenschnitt
München, Februar 2023.
Der Bürgermeister unseres Dorfes hat einen Fotowettbewerb ausgelobt, dessen Thema derart anspruchsvoll ist, daß ich es nicht wage, einen Beitrag einzuschicken. Gefordert werden die besten Aufnahmen, die die schönsten Seiten unseres Ortes vorteilhaft in Szene setzen. Es ist nicht unbedingt der Superlativ, der mich hindert; ich frage mich, nicht zynisch, sondern ganz ernst, was an schönen Aspekten bei uns noch nicht vernichtet worden ist, abgesehen von vielleicht zwei dutzend alter Buchen (150-200 Jahre), deren Verbleib meiner Beharrlichkeit zuzuschreiben ist, mich immer wieder mit dem Forstamt anzulegen. Die anderen, die überhaupt einen Finger rühren für das heimatliche Ökosystem, beruhigen ihr Gewissen ob ihrer sonstigen Untätigkeit damit, Vogelkästen aufzuhängen oder Bienenstöcke zu errichten (ohne ein entsprechendes Pflanzhabitat zu kreieren). Spektakulär indes ist die „Corona-Maßnahmen-Belüftungsanlage“ der Grundschule, die in ihren Dimensionen etwa ein Viertel des Bestandgebäudes einnimmt, mit Lüftungsrohren so groß, daß die Kinder durchpassen würden, wäre der Sog stark genug. Es glänzt und sieht wirklich beeindruckend aus, Industrial Chic in Reinkultur; bin ich die einzige, die sich überlegt, wo – wenn dies die real erforderlichen Maße sind – man eine Anlage unterkriegen könnte, die für einen mehrstöckigen Wohnblock gedacht wäre? 750.000 Euro an Ausgaben sind ja auch nicht lumpig, dafür muß schon ein Oschi her, sonst murrt die Bevölkerung, die will was haben für ihr Steuergeld. 750.000 Euro hätten sich eigentlich auch gut gemacht für die Erdbebenopfer der Türkei und Syriens, aber das hat man nicht ahnen können, daß solch eine Katastrophe geschehen würde. Wenigstens sind jetzt unsere sechzig bis achtzig Dorfkinder absolut Viren sicher, und ein prima Fotomotiv gibt es auch her.
Dann könnte man noch all die liebevoll geschnittenen Gartenhecken und –sträucher ablichten, die (genau wie auf den Spazierwegen am Lech seit kurzem) elegant auf einer Höhe kerzengerade geköpft werden, ein Sinnbild unseres Denkens: bloß keine Verästelungen, feinen Nuancen, nichts organisch gewachsenes, nee, nicht mit uns!, radikal soll es sein (freilich nicht links oder rechts), clean und sauber, auch Bäume werden so behandelt, zack, einfach mal das obere Drittel oder auch Zweidrittel weg, sich von allem befreien, was Arbeit und Umstand bedeuten könnte langfristig. Wenn man doch die Neuronen im Hirn auch so herrlich begradigen und simplifizieren könnte, dann bliebe denjenigen, die noch Gebrauch davon machen, einiges an Aufregung erspart. Es ist mittlerweile tatsächlich so, daß unsere Ortschaft wie die gesamte Umgebung derart häßlich, triste und frustrierend unansehnlich geworden sind, daß es mir schwerfällt, das Haus zu verlassen. Die anderen sind zufrieden. Solch ein herrlicher Wald! Gut, daß wir den ganz in der Nähe haben. Ich igle mich ein daheim, versuche, die Augen und Ohren zu verschließen, lege mich schlafend, paralysiert, darauf hoffend, daß dieser Alptraum sich irgendwann drehen und wieder zu etwas entwickeln wird, das man mit Zuneigung und Dankbarkeit betrachten kann. Vielleicht schafft der Gewinner des Wettbewerbes es, mir etwas aufzeigen, das meine Meinung ändert, das mir Lebensfreude, Heimatglück zurückzugeben vermag.
Im Englischen nennt man es in der Verkehrsordnung wie im übertragenen Dead End, trefflicher als das deutsche Sackgasse. Ich bin vollends angekommen, sozial, gesellschaftlich, lokal, mental, moralisch, ihr habt gewonnen, euer Heckenschnitt war geradlinig, effizient und hochwirksam, ich stehe dort, nicht mehr wissend, wer oder was ich bin, woran ich glauben soll und wofür kämpfen und weshalb ein Foto machen: ihr habt mich besiegt, ich lüpfe den Hut, bin ein fairer Verlierer; – bin mir immer noch sicher, daß ihr es seid, die ihr nach den falschen Werten lebt und die verkehrten logischen Schlüsse zieht und daß ihr es seid, denen der Anstand und die Schönheit abhanden gekommen sind, aber ich erkenne zugleich aufrichtig an: ich bin es geworden, die feststeckt in der Dead End.