230 Zeichen der Zeit
München, Februar 2023.
Das Jahreshoroskop 2022 hatte meinem Sternzeichen – Fische – die große Liebe vorausgesagt. Dabei war letztendlich mein häufigster sozialer Kontakt der Postbote mit dem extrem schrägen Humor gewesen, aber auch nur, weil ich so viel online bestellt habe (wiederum zum Verdruß eben dieses Postbotens). Für 2023 prophezeien die Horoskope einen tiefen Umbruch – ob positiv oder negativ, hänge davon ab, wie man selbst die Dinge angehe. Die kleinen, oft nett illustrierten Textchen mit den Zukunftsprognosen sind quasi der Beifang der Modemagazine, die ich verschlinge, weil die präsentierte Hochglanzutopie so herrlich kontrastiert mit den Realitäten des Umfeldes, wo ein rostroter Lippenstift zu pink-roséfarbenen Augen nicht nur suspekt wirkt, sondern geradezu als subversiv empfunden wird. Auf dem Land trägt man keine Schminke, zumindest keine, die man sieht. Hier versteht man eine goldmetallene Lederjacke als Effekthascherei, als Buhlen um Aufmerksamkeit, nicht als Ausdruck der Lebensfreude oder des Gefallens am Ungewöhnlichen.
Gelegentlich besuchen Leute den Garten, mal eine interessierte Tomatenzieherin zur Inspektion der Hochbeete voller „Buffalo Steak“, „Zebra“ und „Kakao“, mal eine Kita-Gruppe der botanischen Vielfalt wegen (etwa zum Sammeln von Blüten- und Laubblättern für Bastelarbeiten aus gepreßten Pflanzen), Familien, um die Hühner anzukucken oder um Bambus zu holen, der als Meerschweinchenfutter dient (war mir bis dato völlig neu). Jedenfalls stand da eine Mami wohl meines Alters mit der Tochter neben mir im winterlichen Garten, wir unterhielten uns über eine Small Talk Bagatelle, die ich gleich wieder vergaß. Plötzlich rief sie mit sehnsuchtsvoller, wehmütiger Miene aus: „Ach, das (ich weiß nicht mehr was) würde ich soooo gerne tun, aber mein Mann WILL das nicht…!“ Und ich starrte ihr ins Gesicht, kurzfristig erschüttert, schließlich leben wir im Zeitalter von „Schneewittchen und die sieben ZwergInnen“ (tatsächlich so in einem Hamburger Theater aufgeführt), starrte sie mit angehaltenem Atem an, Ach so, dein Mann will das nicht…!, diese kleine, winzige Banalität, und weil er die nicht will, darum machst du es nicht… Und dann dachte ich mir, noch immer überrascht, aber zugleich schmunzelnd und erleichtert: Also, MIR kann das nicht passieren…
Und ich renne rostrot-pink-golden durch den Wald, der keiner mehr ist, sondern nur noch eine klägliche Ansammlung schiefer, dürrer Stecken, mich an eine Lebensfreude klammernd, die zu pflegen viel Disziplin und „Wenn morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen setzen“-Mentalität erfordert. Rostrot-pink-golden den Widerständen, dem Unverständnis zum Trotz, weil es meine winzige Form der Selbstbestimmung ist und meine Art, Ja zu sagen, wo überall das Nein verwest.