227 Heimatneurose
München, Januar 2023.
Heimat ist, wenn man trotzdem bleibt.
„In recent times a shadow has fallen on our sense of beauty, on our aesthetic sensibility. There are undoubtedly many reasons for this, but one is certainly the fact that our everyday utilitarian utensils and implements have become so ugly. It is these ugly things that surround us throughout the day, from morning to night – the clothing we wear, the utensils we eat from, the furniture we make use of. Without our realizing it, these unattractive objects have had an enormous impact on our sensitivity to beauty.” (Soetsu Yanagi, 1933)
Wenn man bleibt, trotz omnipotenter, nicht auszublendender Häßlichkeit und Beschränkung. Trotz Müll und Verwahrlosung des Grundstückes gegenüber, verwohnt von einer nachweislich kriminellen Clangemeinschaft. Trotz des Nachbars nebenan, der einen regelmäßig bei geöffnetem Fenster am Sexleben mit seiner „alle 14-Tage-Freundin“ teilhaben läßt. Trotz übler Nachrede, die von Dritten unhinterfragt geglaubt und entsprechend gespiegelt wird. Trotz des absolut vernichteten, trostlosen Waldes, in dem die Dorfkinder erfolgreich auf Fantasy-Rollenspiele geladen werden mit dem wahlweise zynischen oder aber völlig verblödeten Titel „Die Waldretter“. Trotz des neu errichteten Waldkindergartens keine fünfzig Meter neben einem der seltenen 5G-Funkmasten der Region. Trotz all der Leute, die auf dem Land nicht mehr grüßen, weil man einer Bagatelle wegen miteinander verstritten ist. Trotz der Jahrzehnte währenden, immer krasser sich ausprägenden dorfpolitischen Korruption (Ampelanlage, nicht verwendete Aufzüge, gigantische Lüftungsanlagen, Neubaugebiete, neue Kläranlagen und sieben geplante Windkrafträder in etwa einem Kilometer Entfernung vom Ort, alles den Geschäften und Konten der Gemeindemitglieder zuträglich und für die Dorfbevölkerung völlig überflüssig bzw. schädlich gesundheitlich-finanziell). Trotz der Personen, die permanent Plastik, Gummi und andere höchst gesundheitsgefährdende Materialien im Kamin verfeuern, wobei der Giftrauch in die eigenen vier Wände zieht, und zwar derart, daß man nächtens davon erwacht. Trotz all der in winzige Vorgärten – so diese nicht mit Kies aufgefüllt – gestopften Planschbecken oder Hüpfburgen. Trotz all der Null-Acht-Fünfzehn-Baumarkt-Dekorationen und –Zäune made in China. Wenn man bleibt, obwohl nichts, wirklich überhaupt kein Argument, zu bleiben, übrig ist, wenn man bleibt, weil man tiefst innerlich verwurzelt ist mit dem Ort seiner Kindheit und man die Pflanzen des eigenen Gartens so sehr liebt (etwa den 60 Jahre alten Nußbaum), wenn man bleibt, obwohl man jeden Morgen entsetzt die Augen aufschlägt, sich denkend: Noch ein Tag hier!, wenn man bleibt, obwohl es einen seelisch und körperlich kaputt macht und man weiß, daß man in diesem Umfeld nie Gleichgesinnte finden wird, – dann muß es wohl Heimat sein. Oder eine Neurose.