220, Teil: IV: Zehn Minuten
München, November 2022.
Ich muß mich mal selbst aufkehren; zusammenfegen und wegräumen. Die kahlen Bäume bargen etwas tröstliches, Ahorn, Kastanie. Mir blinzelten die gemütlichen Hausfassaden der Umgebung zu, verspielt und friedlich, sie wurden rosa überhaucht von der spätnachmittäglichen Sonne. Eine angenehm kühle Herbstluft sog ich tief ein während der kurzen Pause, die ich nutzte, mir geringfügig die Beine im Hof zu vertreten. Die meisten Fenster des Rückgebäudes des Prinzregententheaters lagen dunkel und verlassen an diesem Novembersonntag, nur eines im Erdgeschoß war sacht beleuchtet. Ich erspähte ein paar Requisiten, darunter die ACTA Anonymous Maske, an welcher meine Gedanken hängen blieben. Nach einer Weile bemerkte ich den ovalen Schemen, der sich bewegte: man beobachtete mich, ohne sich erkennen zu geben. Die unscheinbare Begebenheit linderte meine Unschlüssigkeit, lenkte ab von der Frage, wohin mit mir – ganz generell, nicht nur in dieser Pause, die just ein penetrantes Gebimmel für beendet erklärte. Drinnen im prunkenden Saal berief ich mich auf das bewährte Konzept: Augen schließen, Kopf drehen, Abwarten, Aufgehen in den Melodien. Modern Classic, vorgetragen vom New Yorker Ensemble „The Knights“ und Ray Chen an der Geige: eine 1714er Stradivari, die Dolphin, mit der er sich noch im Honeymoon befinde, wie der Australier taiwanesischer Abstammung lächelnd-verschmitzt verkündete, denn er spiele sie erst seit sechs Wochen. Und wieder fallen die Tränen, darf ich wahrhaftig fühlen, daß es im Menschsein Größeres gibt als das Mediengeschnatter, den Gesellschaftshickhack, das winzige törichte Dorf und meine eigene bescheidene, unspektakuläre, zuweilen recht sinnfreie Existenz; das Hinterfragen stellt sich kurz ein, steigt auf mit den Violinen, Celli, Querflöten, Oboen, Hörnern. – Zehn Minuten Schreiben, hatte ich mir vorgenommen; die zehn Minuten sind passé.