133 lösen, Verb
München, Mai 2020.
Es sieht anders aus auf meinem Balkon heuer. Ich hatte mich geweigert, dutzende Meter geduldig verharrend und brav Schlange zu stehen, nur um überhaupt in die Gärtnereien oder Baumärkte eingelassen zu werden, als seien wir angewiesen auf Marken wie im Krieg, oder in die ehemalige DDR zurückversetzt worden mit ihren Rationierungen und Unverfügbarkeiten. Ich zog stattdessen das Gemüse selbst aus online besorgten Samen, ebenso die Zierpflanzen: Tomaten, Kürbis, Kartoffeln, Stangenbohnen, Mangold, Brokkoli, Grün- und Rosenkohl für die Gartenhochbeete; Lupine, Quasten- und Ringelblume, Taguettes, Nelken, Nachtviolen, mexikanische Sonnenblume, Baummohn, Sonnenhut, Schmuckkörbchen für Rabatten, Terrasse und eben den Balkon. Dort finden sich auch etliche Kräuter der Vorsaison, die den milden Winter tadellos überstanden haben, Melisse, Minze, Rosmarin, Bohnenkraut, Salbei, sogar Artischocken, von denen ich mir im Sommer herrliche Blüten verspreche. Und schließlich sind zwei stattliche Palmenarten anzutreffen, eine mehrstämmige Yukka, eine Mazaripalme aus den Siebziger Jahren, eine Schwanenhalsagave (einst das Mitbringsel einer Bekannten aus Madeira), Kindelpflanzen. Mitnichten sieht es weniger grün und opulent aus bei mir, es fehlen lediglich die Geranien, Petunien, Heliotrope, Silberregen, Verbenen – doch fehlen sie wirklich? Man hält Dinge, die man schätzt und aus Gewohnheit Jahr für Jahr kauft, für unabdingbar, nur um in der (vom Stolz und moralischen Prinzip) erzwungenen Improvisation festzustellen: Auferlegter Verzicht braucht nicht “alternativlos”, ersatzlos zu bleiben, man muß nur mit dem Klagen und Lamentieren enden und sich neue Wege suchen.
Ich nutze gerne Metaphern, für mich selbst in der Lebensgestaltung, für andere in Texten. Aus Übertragung kann man so viel Nutzen gewinnen, lernen, Freiheit und Glück erlangen.
Der Wechsel von 2019 auf 2020 war mir hart. Wenn Träume und Wünsche halbe und ganze Dekaden lang reine Illusion und quälende Sehnsucht bleiben, so ist man gut beraten, sich davon zu lösen. Das Verb klingt sanft und leicht; es birgt wie alle schlichten, kurzen Worte viel Tiefe. Ich löste mich, indem ich mich dem stellte, was ich nicht wahrhaben wollte, weil die Erkenntnis zu weh tat und mich bedrohte, meine gesamte Existenz. Seit dem frühen Jugendalter hatte ich mich zum Frausein berufen gefühlt, wollte ich nichts dringender und zärtlicher und mehr, als Mutter zu werden, eine Familie zu gründen. Keine Geranien heuer. Keine Kinder in diesem Leben. Kein Brautkleid, kein Camaro, keine Buchveröffentlichung. Wenn man Träume begräbt, biographische Zukunftsentwürfe, den Gedanken an begehrte Gegenstände, sie wirklich von der Hoffnung auf Erfüllung abnabelt und diese Schläge in all ihrer Wucht erträgt, wieder und wieder, da der Prozeß zyklisch verläuft, man vermeintlich vor dem Nichts steht und der Ratlosigkeit und dem Was Jetzt? – wenn man also an diesem Punkt angelangt ist, dann geht einem allmählich auf: dieser gestorbenen Option eröffnet sich plötzlich ein Feld so weit und leer und unangetastet, da wird sich doch etwas machen lassen, etwas finden lassen, irgendetwas, auch grün und opluent, nur eben anders, nur halt keine Geranien?