122 Wertschätzung
München, Ende Dezember 2019.
„Ich. Alles. Jetzt.“, resümierte einmal der populäre Neurologe Gerald Hüther in einem seiner Bücher in Bezug auf den Charakter unserer aktuellen Gesellschaft. Ein anderer Fachmann auf psychologischem Gebiet meinte, die mangelnde Wertschätzung innerhalb unserer Beziehungen erkläre die plötzlich einseitige Betrachtung des Selbst als absoluten Lebensmittelpunkt und entlarvt sie als Gier nach nicht ausreichend befriedigter Aufmerksamkeit. Ich habe mich sehr, sehr oft gefragt, weshalb ich diesen Blog verfasse, was ich damit beabsichtige oder auslebe, ob eine Veröffentlichung der Schilderungen, Gedanken, Meinungen online nötig sei oder moralisch überhaupt vertretbar, wo doch fast alle nach außen treten und sich zu übertrumpfen versuchen mit körperlichen Leistungsrekorden, ungeheuren Quantitäten an Likes und Followern und man schon 2000 Kilometer nonstop Golf spielend die Mongolei durchqueren muß (siehe European Outdoor Film Tour 19/20), um überhaupt noch interessant zu sein für eine Öffentlichkeit. Vielleicht kann man mir zu recht Neid vorwerfen, Mißgunst, Heuchelei. Ich sinne über die Ansichten des Buddhismus nach, allein die Verwendung des Wortes „ich“ sei verpönt wie ungehörig, womit ich bereits die Grenze zur anrüchigen Eigenpräsentation überschreite, das „ich“ als untugendhafter Faux-Pas.
Daß der vorerst letzte Blog-Eintrag nicht mein sprachlich poetischster und inhaltlich schönster, tiefster wird, stimmt mich traurig. Ich denke an die Wale Grönlands, das frisch geborene Blau eines isländischen Eisbergs, die zutrauliche Ginsterkatze einer kenianischen Lodge, an wackelnde Rentierpopos in Lappland, die Hyänen der Stadt Harar in Äthiopien, an Gespräche im Mondschein irgendwo in den Simien-Bergen, die riesigen, blühenden Rhododendronbäume Nepals, die silbrigen Sauerstoffblasen aus der Schnauze des spielenden Seelöwen auf Galápagos, denke an Szenen, Gefühle, Begegnungen, Gespräche, Fotografien, Stille. Die Lektüre des Büchleins Was vom Tage übrig blieb hatte mich in Panik versetzt, weil ich mich im pflichtbewußten Butler, der über Moral und Gehorsam seine eigene Existenz verpaßt und verwirkt, gespiegelt sah; ich wollte werden wie der vermeintliche Azoren-Held, die vermeintliche Vulkan-Heldin, tatkräftig, erfolgreich. Ich wollte Geschichten erzählen vom Menschsein, vom in-der-Natur-Sein, mich verbinden mit dem Leser und endlich mein kleines, begrenztes Denken auflösen, den Tellerrand verlassen. Ich wollte kein Lob, keine Bewunderung, keinen Like; ja, ich sehnte mich nach Austausch. Träumte groß, riesengroß, von der Liebe, von Gemeinsamkeiten, davon, ein Buch zu schreiben. Ich verabscheue inzwischen die omnipräsenten visuellen und textlichen Selfies, die nichts mehr Autobiographisches bergen und auch nicht nach dem Gegenüber fragen, sondern lediglich Gefolgschaft verlangen, als hätten wir das nicht vor über sieben Jahrzehnten überwunden, das pure, begeisterte, unreflektierte Folgen. Ich liebe die mannigfaltigen Möglichkeiten der deutschen Sprache, die der moderne Journalismus sowie der Kurznachrichtenkonsum zerstümmelt haben zu Satzfragmenten und schlagenden Phrasen ohne jede Anmut oder Sinn für Rhythmik, Schnellfeueraussagen, die die Wirklichkeit verzerren, unnötig aufblähen bzw. manipulativ simplifzieren.
Ich habe nicht Golf spielend die Mongolei durchquert und werde gewiß nie auch nur einmal einen Schläger zur Hand nehmen im übertragenen; ich habe in meinem Handeln und Fühlen viele Fehler begangen, schreibe nicht perfekt, verliere mich vielleicht in Banalem, nur weil es mir selbst so wichtig ist oder schön. Jeder einzelne meiner Blog-Einträge jedoch war ehrlich empfunden, wahrhaftig erlebt und durch und durch authentisch.
Ich ende den Blog vorerst mit der Wiederholung eines meiner eindrücklichsten, dabei kürzesten Gänsehaut-Erlebnisse:
Äthiopien, Oktober 2014.
Der Bus karrte uns auf Wirbelsäule strapazierende Art eine ungeteerte Straße entlang. Es war eine Weile her, seit wir die letzte Ortschaft passiert hatten. Wir befanden uns noch zu Beginn der Reise, auf der ich feststellen würde: Äthiopien sollte mich faszinieren, Äthiopien sollte mir aber zugleich zeigen, was bittere Armut ist. Ein paar Kostproben der prekären Zustände konnte ich bereits sehen, Wellblechbaracken ohne Strom- und Wasseranschluß, wohl einmal an Kinderlähmung erkrankte, verkrüppelte Erwachsene, die sich auf allen Vieren fortschleppten… Mitten in der Pampa ragte plötzlich ein nagelneues Schild aus dem trockenen, rotsandigen Boden heraus, groß und prächtig, aus glänzendem, unzerbeulten Metall, rechteckig, grün, weiß bedruckt. In fetten Lettern prangte dort:
Value Your Life.