112, Teil III: Seelenbeben
Marokko, Juni 2013.
An einige Touren erinnere ich mich weniger gut. Es bleiben kaum Details hängen, ich entsinne mich nicht mehr meiner damaligen Gedanken, kann keine Handlung bilden aus dem Erlebten. Bei einer intensiven, Seelen regenden Tour formen sich automatisch literarisch stimmige Sätze in meinem Kopf, ich brauche sie quasi nur „abzulesen“ und festzuhalten auf dem Papier; Schilderungen und Vergleiche purzeln einfach so vor meiner Stirn herab, lebendig und greifbar. In meinem Inneren zittern und beben dann verborgene Saiten, schwingen, tanzen, wirbeln umher. Ich weiß nicht, weshalb sie sich manchmal überschlagen und manchmal schweigen, bin bis heute nicht hinter das Geheimnis dieses berauschenden Zaubers gekommen; man kann es nicht erzwingen, bloß dankbar sein, wenn sich die inspirierende, nährende, fruchtbare Welle auftürmt und einen auf schöne Weise mitreißt.
Marokko zählt zu jenen Reisen, bei denen ich vergeblich auf die erhoffte Flut wartete, obwohl ich viel sah und aufnahm. Irgendwie nebulös und gleichförmig und vor allem bruchstückhaft, insgesamt also kapriziös, zeigt sich mir hier meine Erinnerung: ein junges, mageres Kätzchen, der Blick so stark und durchdingend, als sei ein Mensch im falschen Körper gelandet, rot-weiß wie der Hintergrund, die Wölbung des Rückens perfekt die Rundung des abbröckelnden Fliesen-Putzes der Mauer dahinter spiegelnd. Ein Verkäufer in seinem Stand, der sich biegt unter dem Gewicht der bunten Zuckersachen, die klebrigen Süßigkeiten bedeckt von einer Heerschar angelockter Wespen, ein lebendiges Tuch aus Insektenleibern auf farbenfrohem Grund. Hitze, knatternde Mopeds, die monotonen Rezitationen aus einer angrenzenden Koranschule, beißender, omnipräsenter, in die Nase schießender Eselurin. In den Bergen – mitten in den Bergen – eine Bude mit einer Orangenpresse, frischer Saft auf über 2000 Metern. Wilde pinke Orchideen. Gelbe Ginsterbüsche. Uralte Wacholderbäume, die Stämme wie gedrechselt von Gottes Hand. Reisegefährten, mit denen ich seitdem unterwegs bin einmal jährlich. Eine azurblaue Keramikschale voll getrockneter Rosenblüten. Klimperndes, unter den Füßen wegrutschendes Geröll. Tomaten-Gurkensalat und Möhren-Kartoffel-Tajine-Gerichte. Mein verschnörkeltes Hennatattoo den gesamten Arm entlang, gemalt von einer gierigen Frau, die unbedingt als zusätzlichen Lohn meinen Lippenstift haben wollte. An Ketten gehaltene Äffchen auf dem Gauklerplatz der Roten Stadt. Eine Bauchtänzerin. Die unzähligen, pittoresk klappernden Störche, die schiefen Stadtmauern und auskragenden Gebäudevorsprünge belagernd.
Das einzige, was sich mir wirklich überdeutlich eingebrannt hat, war die quälend lange, schlaflose Nacht zu Beginn des Zelttrekkings den Jebel Toubkal hinauf, als mich immer und immer wieder Visionen von meinem Idol Hans Hass plagten, obwohl ich länger keinen Gedanken an ihn gerichtet oder eines seiner Bücher gelesen bzw. einen seiner Filme gesehen hatte: der dreizehnte Juni 2013, sein Sterbedatum, wie ich später erfuhr (vgl. Beitrag 88). Marokko entzieht sich mir, doch trage ich es ihm nicht nach. In den tieferen Schichten meines Unterbewußtsein schlummern die dort verbrachten Tage und Wochen trotzdem als Schatz, den ich niemals missen möchte, Seelen bebender Wirbelsturm hin oder her. Ich bin dankbar, wie für jede meiner Reisen, vergangenen und künftigen. Unser Leben ist eine Reise.