106, Teil II: Rentiernasen
Norwegen, September 2019.
Nachdenklich betrachte ich das Beet: remontierende Rosen lachen mir entgegen, halb gefüllte, aprikotfarbene Köpfe, kleine wildähnliche in kicherndem Magenta, zarte Fairy zu aberdutzenden, eine einzelne blutrote glimmt auf. Der Säckelblumenstrauch stimmt enzianblau mit ein, Japananemonen, Springkraut, Katzenminze sind ins Bild eingewoben; an den Bäumen hängen grüne und rotbackige Äpfel, das schmatzende, trillernde, glucksende Konzert der Stare perlt von den Kronen herab. Ich höre Insektengesumm. Auf dem Terrassentisch steht eine Kristallvase mit bunten Pompondahlien, ein weiterer Tupfen Heiterkeit in der warmen bayerischen Sonne. Ich schiebe mir noch einen Löffel Honig in den Mund, er ist cremig, hell, fast weiß, wohlschmeckend, lasse ihn auf der Zunge zergehen. 500 Kilometer nördlich des Polarkreises ist er binnen weniger schneefreier Wochen in Himbeergebüsch als Pollen gesammelt worden, kaum vorstellbar. Mein Boston Terrier Mädchen verdöst den frühen Nachmittag, dem ein Stück weit normaler Alltag vorangegangen ist: Morgengassi, Büro (Home Office), die wöchentliche Yogastunde im Dorf. Ich bin zurück, und bin es doch nicht. Wieder einmal hänge ich fest, bin ich steckengeblieben während der Heimreise. Nicht in Norwegen bin ich, nicht in Deutschland. Ich frage die Rosen, ob sie Bescheid wüßten über meinen Verbleib, aber sie ziehen es vor, nicht zu antworten.
Rentiere auf die Fellnase küssen soll man nicht.
Rentiere gehören dem Kulturgut der Samen an, es bedarf besonderer Beziehungen und guter Kontakte, als Nicht-Same welche dank Sondergenehmigung halten zu dürfen. Vier gezähmte Exemplare, männlich und kastriert, in der Nähe des nordischen Örtchens Bardufoss sind gewöhnt an ihr Aufgabenfeld: sie dienen kleinen Touristengruppen während eines mehrtägigen Trekkings in den kurzen Sommermonaten Juli bis Anfang September als Lastentier. Sie heißen Mats, Kaspar, Jonathan und Emil, sind von unterschiedlichem Aussehen und verschiedenem Gemüt, jeder für sich genommen eigen, jeder auf seine Weise lieb.
Trotzdem zog es mich besonders zum fast reinweißen, stürmischen Jonathan hin, ein frecher Schlingel, dem es Spaß zu machen schien, voranzustürmen, einen fast die Hügelkuppe hinunterzureißen, oder beharrlich – womit ich meine: stockstur – anzuhalten, um genüßlich wie ausgiebig Gras zu rupfen und Flechten zu naschen, die den teils sumpfigen, teils steinigen Boden zuweilen dicht überwucherten. Obwohl Rentiere scheue Genossen sind und sich ungern berühren lassen, widerstand ich der Versuchung dichten, flauschigen Fells nicht und tastete mich an mein Begleittier heran, das links und rechts der Flanken große, schwere Packsäcke mit unserer Zeltküchenausstattung trug. Jonathan zuckte nicht weg. Ich strich ihm vorsichtig über die Schultern. Massierte seinen Bauch. Kraulte ihm das Kinn, erst behutsam, dann intensiv; schwer ließ er seinen Kopf gegen mich sinken. Ich schielte zu den anderen, zwei weitere Reisegefährten, ein Guide, die gerade verstreut über die gleißend helle Ebene wanderten. Rentiere auf die Nase küssen soll man nicht. Ich gab Jonathan heimlich ein Bussi. Die Schnauze war rund, warm und weich, ein wenig feucht vom Kräuterzupfen auf nassem Grund; ein verdutztes Augenpaar, ein Zögern, eine rasche Kopfbewegung nach hinten, nicht aus Unbehagen, eher aus Erstaunen heraus. Was war das? Rentiere küssen ist schön, darum tat ich es noch ein paar Mal, verstohlen und in beidseitigem Einverständnis.