104, Teil II: Schattenseiten
Nepal, März 2011.
Es gab einige Dinge während dieser Reise, die ich weniger genoß.
Die ungeheuren Mengen an Abfall zum Beispiel, Abfall, der über die Straßen Kathmandus schwappte wie ein hochwassergeschwängerter Bach, eine Ansammlung chaotischer Einzelteile, zerfetzt, stinkend, ein Schwarm toter, unnütz gewordener Sachen, auf perverse Art faszinierend. Mir boten sich Stilleben makaberer Art: ein Moped, in der Nähe einer windschiefen niedrigen Mauer parkend, abgestellt inmitten von Dosen, Kartonagen, Verpackungen, Plastik, daneben ein sich im Schlaf räkelnder Hund und als Scheitelpunkt dieser Dreieckskomposition eine verendete Ratte (auf dem Foto nicht sichtbar). Udaya, unser einheimischer Guide, behauptete, unter der (damals recht kürzlich abgeschafften) Monarchie habe das Müll(abfuhr)system hervorragend funktioniert.
Ebenso sehr entsetzte mich eine bestimmte verbreitete touristische Praxis, ein akzeptiertes Gaffen, ein „legitimer“ Voyeurismus: die anderen Gruppenmitglieder stürzten sich gierig auf eine der zahlreich stattfindenden Verbrennungen unten am Flußufer, knipsten ungeniert Leichname, trauernde Angehörige, qualmende Feuer, Lumpensammler, dabei meinen Unmut über die absolute Pietätlosigkeit nicht nachvollziehen könnend, immerhin stünde das Beiwohnen einer Verbrennung als Tipp im Reiseführer. Als ich fragte, wie es ihnen denn behagen würde, rollte in Deutschland bei der Beerdigung der Eltern oder gar des eigenen Kindes ein Bus asiatischer Touristen heran, die den Friedhof oder die Kirche besetzten, obligatorisch fotografierend, da hieß es lapidar, die Kulturkreise ließen sich nicht vergleichen, im Hinduismus sei das ja „eh alles öffentlich“, ich solle mich nicht so haben.
Drittens litt ich partiell selbst verschuldete Qualen in der Kälte, mit der ich naives Wesen nicht gerechnet hatte; der Winter in Nepal hatte sich in diesem Jahr verspätet, um wie verabredet Einzug zu halten während des einwöchigen Trekkings in der Annapurnaregion. Unsere Lodges trugen Namen wie „High View“, „Top View“, „Mountain View“, doch hatten wir offen gesagt überhaupt gar keine View, immerzu hingen dicke, plumpe Wolkenkörper über den angeblich vorhandenen Bergen, uns einengend, fast klaustrophobisch tief, deprimierend dicht und grau. Die unzähligen Vier- bis Achttausender um uns herum blieben abstrakte Fantasie, Bücher- oder Filmwissen. Als ich ziemlich gegen Ende der Trekkingzeit die primitive Wellblech gedeckte, beengte Kammer verließ, die mir als Schlafplatz für die vergangene Nacht gedient hatte, wunderte ich mich, daß das einzig vorhandene Waschbecken nicht okkupiert war, wo sonst doch eine ansehnliche Schlange an Leuten darauf wartete, sich die Zähne putzen, das Gesicht waschen zu können. Dafür standen in gewisser Entfernung ein gutes Dutzend Personen, Reisende gleichwie Lastenträger der Begleitmannschaft, als Grüppchen zusammen, gestikulierend, Fotos schießend. Ich verkürzte meine Zahnhygiene, um dem Grund nachzugehen für die kleine unübliche Aufregung am Morgen. Es verschlug mir den Atem. In goldgelbes, orangerötliches Licht getaucht prangte dort ein Schnee bedeckter Gipfel, eingepfercht zwischen Pension und Wald, ein hoheitliches weißes Gebilde voller Kraft und Ruhe. Ein Bergkegel, tatsächlich, es war also wahr, wir durchwanderten einen Flecken des Himalaya…!
Da ich ungenügend informiert zur Tour aufgebrochen und dementsprechend schlecht gerüstet war (wie an anderer Stelle bereits erwähnt, vgl. Beitrag 92), starb ich insbesondere nachts etliche Tode vor Kälte. Zuweilen schüttelte mich ein heftiger Frost, der zugleich Hitze in meine Glieder Trieb, ein Fieber, das sich anderntags glücklicherweise wieder verzog. Ich schenkte mir einen Becher Tee ein, den ganz auszutrinken ich vor dem Einschlafen nicht schaffte; in der Früh griff ich durstig danach, doch hatte sich eine Eisschicht gebildet darauf – und ich nächtigte in einem zerlöcherten Übergangsschlafsack von anno dazumal, abwechselnd bibbernd, heulend, konfuses Zeug träumend… Ein übervorbildlich ausgestatteter Mann, der neuestes Hightech-Equipment wie für eine Nanga Parbat – Besteigung im Gepäck mitsichführte (oder aber als Tester für Globetrotter bzw. Sport Scheck arbeitete), war so freundlich, mir seine Zweitjacke zu leihen (die meine hing brav auf dem heimischen Kleiderbügel), wofür ich ihm bis heute sehr, sehr dankbar bin, zumal er mich nicht sonderlich mochte.
Flanierend erkundete ich die Umgebung einer unserer Unterkünfte irgendwo in der Bergpampa, kein Ort weiter, keine Geschäfte, nichts, bloß düsterer Wald, kleine, trostlose Äcker zur Selbstversorgung der simplen, strom- und fließendwasserfreien Pension; ich prallte unvermittelt auf drei große, tote Rabenvögel, das Gefieder pechschwarz mit faszinierend-tintenblauem Schimmer, Rabenvögel, kopfüber aufgehängt an einem Pfahl zur Abschreckung böser Geister, die Augen milchig ins Leere stierend: nicht witzig. Es schreckte jedenfalls mich Lebende ab, die ich zurücksprintete in mein kaltes, ungemütliches Kämmerlein, um (hoffentlich ohne Belästigung durch Gespenster oder negative Energien) mich in Lektüre zu versenken.