97, Teil IV: Kleiner Racheakt
Dubai, Januar 2016.
Es war der letzte Arbeitstag, wir lagen mit dem erreichten Pensum hinter dem üblichen Schnitt zurück. Die folgenden Stunden würden zeigen, ob überhaupt ausreichend Datenmaterial erhoben worden war, um aussagekräftige Statistiken erstellen zu können, sprich: ob wir vielleicht versagt hatten und die Wissenschaft (und sei unser Beitrag noch so marginal) enttäuschten. Es lag Druck auf uns, unseren Schultern, die Stimmung im Camp war gedämpft.
Ich verzichtete auf die motzenden Pubertierenden und schloß mich freiwillig dem Team an, dem der gefürchtete Mike angehörte. Ich sah ein schwarzes Glitzern in seinen Augen, es ignorierend. Die erste Stelle, die wir gemäß Aufgabenliste aufsuchten, erwies sich einmal mehr als Flop: die Fallen harrten samt unangetasteten Ködern dort aus, wo wir sie zurückgelassen hatten, die Türen sperrangelweit geöffnet. Die in dem Sand stakenden Kameras verrieten uns auf den ersten Blick, daß sie nicht ausgelöst worden waren, da sie leider nicht aufblinkten. Die Luft flirrte, weit, weit oben am blassen Himmel zog irgendein Raubvogel seine Kreise. Hasan, Tess, David und ich waren bereit zum Aufbruch, vielleicht würde der nächste Spot Aufschlußreicheres bieten; da räusperte Mike sich auffällig laut. Er pflanzte sich vor uns auf, die Schultern straffend, um mit wichtiger Miene vor sich auf den Boden zu deuten: verwischte Tapsen im Sand, ein wenig längst vertrockneter, sich auflösender Kot.
„Eine Wildkatze!“ verkündete Mike selbstherrlich. Uralte Kackereste – pardon – und schemenhafte Pfotenspuren, ja, beides gewiß von einer Wildkatze stammend, jedoch nicht verwertbar.
„Ich werde es notieren.“ sagte ich entgegenkommend den Stift zückend, eher beiläufig, zugegeben. Wieder trat dieses ungute Glitzern in Mikes Augen, ich wußte, er war auf Ärger aus, war es immerzu gewesen, er hatte bloß auf die passende Gelegenheit gewartet, denn es wurmte ihn immens, daß ich keine Angst aufbrachte, mich nicht einschüchtern ließ von seinem aufgeblasenen Getue.
„Ich!“ schrie er triumphierend. „Ich habe eine Wildkatze aufgespürt!“ Wir übrigen wechselten rasche Blicke.
„Super, Schatz!“ beschwichtigte Tess ihren Gatten, so wie man ein kleines Kind lobt für eine entsetzlich häßliche Bastelei.
„Ich!!“ brüllte Mike plötzlich los. „Habe eine Wildkatze aufgespürt! Wir müssen das jetzt weiterverfolgen! Es ist absolut wichtig! In diese Richtung ist sie gegangen, ihr nach, sofort!“
„Ähm.“ piepste David fast, sein Adamsapfel hüpfte einige Male hektisch auf und ab. „Die Zeit ist zu knapp. Sonst schaffen wir es nicht, die restliche Punkte der Liste abzuarbeiten und dann-“
„Verdammt, sag ich! Fuck! FUCK!! Wir folgen der Wildkatze, es ist mein Verdienst, das lasse ich mir nicht nehmen! Das ist das wichtigste für die Forschung!“
„Er sabotiert uns absichtlich“, schoß es mir durch den Kopf. „Er will, daß wir versagen, daß die Daten wertlos werden, alles umsonst war…“
Wer mich kennt, der weiß, daß es einen Punkt gibt in meiner Wut, bei dessen Überschreitung ich mich nicht mehr zusammenzureißen vermag. Gelassenheit wird mir in solchen Situationen zur fremdesten Vokabel. Ich explodiere. Ich werde laut. Werde zur Furie, die sich messerscharfer Worte bedient, tief schneidend, mit kristallinem Verstand aber ohne jedes Maß. Ich schleuderte lauter als Mike zuvor meine Meinung in die Wüste hinein, rumorte durch die Stille und Ruhe, die ich mir so sehr gewünscht hatte in Dubai. Dennoch blieb ich bei meinen Argumenten, Mike zerpflückend, seine armselige Psyche sezierend, entlarvte die plumpen, unsinnigen, tyrannisierenden Machtspielchen. Danach schöpfte ich Atem, schritt zum Wagen zurück, ein bonbonroter, nagelneuer Ford-Pickup, beinahe eine Fata Morgana inmitten der Gleichförmigkeit der Landschaft. Wie betröppelte Lämmer folgten alle anderen, inklusive des verstummten Mike.
„Schatz,“ sagte Tess mit zitternder Stimme. „Liebling, wir werden die GPS-Koordinaten markieren, dann finden die Wissenschaftler die Stelle wieder, an der du die Wildkatze entdeckt hast.“
Ja, unbestreitbar, jetzt hatte ich Angst! Ich krallte mich am Griff der Wagentür fest. Das Auto schlingerte, brach zur einen, dann zur anderen Seite aus. Wir schossen mit vollkommen überhöhter Geschwindigkeit über den Sand hinweg, der sich zuweilen verhielt wie Glatteis. Die Fahrbahn war nicht geteert oder auf andere Weise befestigt, bestand bloß aus Rillen, verursacht durch die regelmäßige Benutzung derselben Strecke. Metallen und silbern glänzend flog der Zaun zu meiner Linken vorüber, da wir der äußersten Grenze des Reservates, meterhoch und massiv umfriedet, folgten. Das war kein wackeliges, altersschwaches, loses Maschendrahtgebilde, nein, es handelte sich um einen stabilen, einbetonierten, megamodernen, wie eine Wand aufragenden Bauzaun, der einbrechende Gauner und ausbrechende Säuger wie Oryx in Schach zu halten vermochte. Vielleicht zwei Meter davon entfernt jagte der Ford Pickup durch die Wüste, zuweilen rutschend und dem Wehr erschreckend nahe kommend. Mike saß am Steuer. Im Rückspiegel konnte ich Teile seines Gesichtes sehen, es trug die verbissene, starre Miene eines Irren. Er riskierte mit seiner Aktion, nicht nur sich selbst, sondern auch seine Ehefrau in Gefahr zu bringen, jene Aktion, die dazu dienen sollte, uns Aufsässige das Fürchten zu lehren, was vollauf gelang, es war totenstill im Wagen, der Teint der Insassen bleich. Davids Adamapfel hüpfte, Hasans Kiefer knirschten, Tess schwitzte, ich umklammerte panisch den Haltegriff. Die Fahrt mag zwanzig Minuten gedauert haben oder dreißig, bis es Mike zu blöd wurde, sich sein Verhalten für dessen Verhältnisse normalisierte und wir vier (Mike verblieb den restlichen Tag im Auto) weiterarbeiten konnten.
Die Teamleitung, Maggy, diese toughe, routinierte Person, berührte mich während des abendlichen Buffets auf dem Campgrund leicht an der Schulter. Karola hatte wie gewöhnlich das Gespräch an sich gerissen, schwadronierte übertrieben wichtig und nach Aufmerksamkeit heischend vor sich hin; Maggy aber raunte mir ins Ohr: „Ich habe gehört, was passiert ist.“ Ihr Blick wanderte hektisch zu Mike, der sich gerade Kartoffeln auf seinen Teller schaufelte. „Alles in Ordnung?“
Überrascht erwiderte ich in üblicher Lautstärke: „Klar! Was soll denn sein?“
Mit Ach und Krach hatten wir ausreichend Datenmaterial zusammengetragen.
In der allerletzten Nacht machte ein Abschied rufender Wind die Zeltwand flattern. Ich sah durch die dünne Membran eine hutzelige Astsilhouette über mir. Ich weiß nicht, wieviel Uhr es gewesen sein mag, aber als ich hinaushorchte in meine letzten Stunden Dubaiwüste, da herrschte doch tatsächlich eine gewisse Art von Stille. Ich schmunzelte kurz, ehe ich in den Schlaf fiel.