43, Teil VII: Unfall
Äthiopien, Oktober 2014.
Es war frostig kalt, doch fiel noch Regen anstatt Schnee. Ein paar Tage später, in den Bale Bergen auf viertausend Metern, würden die Zeltplanen frühmorgens mit dickem Raureif bedeckt sein. Das WC des „befestigten“ Lagers (es gab eine feuerbeheizte Holzhütte als Gemeinschaftsraum, ansonsten nächtigte man in den gewohnten Zwei-Mann-Zelten) bestand aus einer losen Kloschüssel, edel aus Porzellan, inklusive Plastikbrille, aber nirgends angeschlossen. Sie war über einem Loch drapiert worden, völlig verdreckt und seit Aufstellung garantiert nicht ein einziges Mal gereinigt. Keine zehn Pferde würden mich dazu bewegen können, sie zu benützen. Ein paar Warzenschweine stromerten umher, fünf, sechs Tiere, in der Hoffnung auf Nahrungsreste. Es war dunkel, allgemein frustrierte Stimmung über die dauerhaft schlechte Wetterlage hatte sich ausgebreitet, Trekking durch Schlamm und bei eisigen Temperaturen kann schnell aufs Gemüt schlagen. Ich hatte keine Lust, mich in die schweren, nassen, stinkenden Bergstiefel zu zwängen, schlüpfte daher bloß geschwind in die Badelatschen. Ich hatte das Verlassen des kleinen, engen, dafür immerhin regengeschützten Zeltes so lange wie möglich hinausgezögert, aber nun war der Drang überstark, ich mußte mal. Ich tapste durch die Dunkelheit, es prasselte auf mich herab, ich schlotterte. Als ich endlich Gebüsch erreichte, stellte ich fest, daß es Dornen bewachsen war, ich also nicht hineinsteigen konnte, um Privatsphäre zu haben. Ich umrundete das Gestrüpp, warf prüfende Blicke nach links und rechts, schaltete die Stirnlampe aus (man präsentiert sich ja nicht im Scheinwerferlicht), um endlich zu pieseln. Als ich die Hosen wieder hochziehen wollte, verlor ich ein klitzekleinwenig das Gleichgewicht, tat einen Schritt – einen einzigen nur! – zur Seite und versank mit einem garstigen Schmatzen bis zur Wade im Sumpf. Dadurch abermals aus der Balance gerissen, stolperte auch der andere Fuß ein Stück weiter, ebenfalls in den kühlen, feuchten, massigen Sog hinein, nicht ganz so weit, etwa bis zum Knöchel. Vorsichtig kümmerte ich mich zuallererst darum, mich wieder richtig anzuziehen. Im Bemühen, einfach aus dem Sumpf zu steigen, geriet ich mit dem einen Bein noch tiefer hinein. Das war so etwas von typisch, daß mir das jetzt passierte. Ich überlegte kurz, ob ich um Hilfe rufen sollte, was mein eitler Stolz sofort verwarf. Ich dachte an meine Vorbilder, an meine Helden, was ihnen während ihrer Abenteuer widerfuhr, was sie bewältigten und überstanden, und ich hatte es fertiggebracht, beim Pieseln im Sumpf steckenzubleiben… Ich beugte langsam die Knie, lehnte mich nach hinten, mich mit dem Po auf den dort zwar auch regennassen, doch festen Grund absetzend. In dieser Position zog ich mit beiden Händen erst den einen Fuß, dann den anderen heraus. Mir fehlten zwei Badelatschen und eine Socke. Wir befanden uns am Anfang der Tour, würden noch in schimmelnden „Hotel“unterkünften nächtigen (wie ich aus Erfahrung wußte), ich brauchte die Badelatschen, um mir nicht einen Fußpilz oder schlimmeres einzufangen. Also fischte ich blind im Matsch umhertastend nach ihnen. Es war hernach noch eine interessante Beschäftigung, bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt und treu bleibendem Regen Hosenbeine, Füße und Badelatschen einigermaßen vom Dreck zu befreien, bevor ich in den Schlafsack zurückkriechen konnte. Ich glaube, die Warzenschweine haben sich sehr gewundert.
Wir polterten seit Stunden die Straße entlang. Jemand hatte bei einem fliegenden Händler zu einem Spottpreis einen Sack Orangen erstanden, uns anderen davon anbietend. Ich schaute aus dem Fenster. Es ging ganz schnell und doch fror die Zeit ein, wie so oft in solchen Momenten. Ich sah einen einheimischen Bus auf der Gegenfahrbahn in leichter Schieflage, die vorderen Zweidrittel zerfetzt, aufgerissen. Sah einen Lastwagen halb im Graben, das Fahrerhaus zertrümmert. Viele, viele Menschen saßen oder lagen auf dem Feld daneben, karger Boden, spärlich bewachsen. Ein paar dürre Bäume krallten sich in die Ebene, kahl und greise. Es war kurz vor Einbruch der Dunkelheit und wir im Nirgendwo, es gab bloß die Straße, uns und das Unfallfahrzeug. Mein Hirn ratterte. Wir alle besaßen Stirnlampen, Kleidung, Notfall-Verbandszeug, Energieriegel und Wasser. Unser Transporter wurde nicht langsamer.
„Was machen wir?“ murmle ich verwirrt. Ich wende mich um, hinter uns nun die Menschen, hockend, liegend, eingehüllt in dünne, traditionelle Kleidung.
„Aber wieso halten wir nicht?“ frage ich. Keine Reaktion, ich sitze ganz am Ende an der Heckscheibe. „Stop!“ rufe ich. „Anhalten! Da war ein Unfall! Ich habe Verletzte gesehen, wir müssen helfen!“
In unserem Bus herrscht Schweigen. „Es helfen andere.“ sagt unser Guide.
„Was? Wer denn? Hier ist doch nichts?“
„Die Rettung kommt, ist schon unterwegs.“
Ich fasse seine Lüge nicht. „Wir könnten ihnen wenigstens Licht geben, unsere Stirnlampen-“
„Kein Problem, alles ok.“
Schweigen. Betont fröhlich höre ich es flöten von vorne: „Noch jemand eine Orange?“
Ich habe nicht darauf bestanden, umzudrehen, um Erstversorgung zu leisten. Ich war so schuldig wie jeder andere meiner Gruppe. Trotzdem ekelte ich mich vor diesen Leuten seit dem beschriebenen Moment. Richtig schlecht wurde mir abends im Camp, als ich nochmals die Sprache auf jene Angelegenheit brachte. Es stellte sich heraus, daß ausgerechnet die Frau mit dem Sack Orangen eine ausgebildete und praktizierende Ärztin war.
„Weißt du,“ sagte sie zu mir, „das bringt nichts, das gibt nur Ärger! Die sind hier ganz anders, das ist nicht wie bei uns!“