94, Teil I: Zwiespalt einer Glitzerwelt
Dubai, März 2015/ Januar 2016.
Kein Jahr zuvor hatte ich im Anschluß an eine Omanreise inklusive Schwimmtrekking durch zahlreiche traumhafte Wadis hineingeschnuppert in die kuriose Wunderwelt der Emirate. Obwohl ich weiß, daß grenzenloses, plötzliches Wachstum nicht funktionieren kann ohne Schattenseiten, daß Menschen aus China, Indien, Nepal etc. als Bauarbeiter und billigste Arbeitskräfte ausgepreßt, Ressourcen en gros verschleudert und Biotope wie die Mangrovenzonen zerstört sowie Desertifikationsprozesse beschleunigt werden, muß ich gestehen, daß mich faszinierte, was Dubai City mir als Kunsthistorikerin und Designverliebte bot, nicht zu vergessen das kulturelle wie technische Knowhow, das hier eingesetzt wird, die Synthese von traditioneller Formensprache, modernem Luxusanspruch und einer Technologie auf dem neuesten Stand (etwa hinsichtlich der Erdbebensicherheit der Gebäude oder der Fahrstuhlleistung).
Überwältigt stand ich in der Dubai Mall vor dem Schaufenster eines Cartier-Geschäftes, das ein üppiges Diamant- und Rubincollier präsentierte, ein Schmuckstück, in welches zwölf tausend Stunden Handwerk investiert worden waren, wie ein mühevoll kalligraphierter englischsprachiger Text mitteilte. Preis auf Anfrage. Aber um den Preis geht es nicht, es geht um das feinmotorische menschliche Vermögen, eine solche Pretiose zu gestalten, und zwar innerhalb eines zeitlichen Rahmens, der ausgestorben zu sein scheint angesichts der Schnellebigkeit und Kurzatmigkeit des 21. Jahrhunderts (und ja, an den Edelsteinen klebt das Blut der sie abbauenden Sklaven, sind die seltenen Metalle „belastet“ mit den Szenen gerodeter, Quecksilber vergifteter Regenwälder). Dies ist mein Lebenszwiespalt: ich liebe, verehre das Schöne, die Ästhetik in Natur und menschlich geschaffenen Gegenständen, im vollen Bewußtsein des Leides und der Destruktion, die oftmals mit letzt genanntem einhergehen. Während ich einer Eishalle im Wüstenstaat und dem riesigen Aquarium als Herzstück eines Konsumtempels nun wirklich nichts abgewinnen kann, beschwor das fast vollständig erhaltene Dinosaurierskelett unumwunden Ehrfurcht in mir herauf. Der Scheich hatte das in den USA entdeckte, ca. 155 Millionen alte paläontologische Relikt erworben und als Attraktion inmitten eines historischen Vorbildern nachempfundenen, allerdings höchst edlen Souks aufstellen lassen. Abgesehen von einzelnen Finger- bzw. Fuß- und Schwanzknochen, Kleinteilen also, war der Diplodocus (zu 90%) in komplettem Zustand, eine ordentliche wissenschaftliche Sensation, nun LED-Blau angestrahlt, seines üblichen, leicht angestaubtem Museumskontextes enthoben.
Im Kontrast zum peniblen Orientzauberimage der Vorzeigeprojekte wie Burj al-Arab, Burj Khalifa, Dubai Mall befand sich das quirlige, chaotische Treiben am Dubai Creek, ein durch die Stadt führender, geringfügig schmuddeliger Flußarm, den man in großen hölzernen Booten quert, unzählige, voll beladene Boote, die Touristenmassen, Anzugträger, Familenclans von einem Ufer zum anderen befördern, dicht gedrängt, stets an der Grenze zur Havarie. Lange beobachteten wir das alltägliche, minütliche Spektakel, das permanente Anlegen, Ablegen, Einsteigen, Aussteigen, das Kippeln der Vehikel, deren Schunkeln, die plätschernden Wellen, die an die Befestigungsmauern schlugen: klatsch-klatsch, klatsch-klatsch… Auf dem Wasser trieben neben pittoresken Gebetsketten aus leuchtend orangen Studentenblumen auch weggeworfene Trinkbecher, Verpackungen undefinierbarer Art und Strohhalme aus Plastik, ein wehmütig stimmendes Bild ohne jede Kongruenz. Es roch nach Öl; in nicht zu weiter Ferne türmten die blendend weißen Kreuzfahrtsschiffe sich auf, neuzeitliche Seeungeheuer, zeittypisch und doch anachronistisch.
Es war jedenfalls während dieser ersten kurzen Begegnung mit Dubai gewesen, als ich irgendwo auf dem Weg von A nach B undeutlich die Dünen vorübersausen sah; freilich war ich es, die sauste, in einem PKW hockend. Die Anhäufung von Sand am Straßenrand wirkte wahrlich nicht spektakulär oder besonders malerisch oder gar geheimnisvoll, fahl-gelb, langgezogen, eine sanfte hügelige Kette aus einer unvorstellbaren Summe an Körnern. Aber just in der Sekunde bedauerte ich es zutiefst, daß ich nicht eintauchen würde in diese Facette Dubais, in dessen eigentliches, einst ursprüngliches Wesen. Ich beschloß, zurückzukehren, um die Wüste dort kennenzulernen; keine wilde, unermeßliche Wüste wie die Sahara oder Gobi oder Atacama, nein, ein winziges, mickriges, restliches Überbleibsel, ein umzäuntes, kontrolliertes und kontrollierbares Reservat. Zehn Monate später löste ich mein Versprechen ein.