93, Teil II: Wie das eine zum anderen führt
Tromsø, März 2017.
Die Hunde bellten nicht, sie schrieen. Ketten klirrten, Tierleiber sprangen kraftvoll in die Höhe, Zungen hingen aufgeregt hechelnd aus schäumenden Mäulern. Nie waren mir solch muskulöse, durchtrainierte Huskys untergekommen; die Hektik, die Nervosität, die Lärmkulisse schlugen mir auf den Magen. Trubel, Betriebsamkeit, Anleinen, Einspannen, die Schlitten aufreihen; plötzlich traute ich es mir nicht mehr zu, Herrin solcher Energiebündel zu werden, und sei es für eine Stunde. Das Zaudern stellte sich ein, das Kleinreden. Die Dame, die mich begleiten sollte, lächelte mich an, das lange Haar kupfern-glänzend, welch tolles Leuchten inmitten der Grisaillen der norwegischen Ländlichkeit, reduzierte Palette aus fein nuancierten Tönen. Ich stand auf dem Tritt, eine aktive Haltung einnehmend, die Bauch, Beine, Po, Rücken, Arme, einfach alles beanspruchte, ein Ganzkörpertraining, obwohl man selbst nicht in Bewegung war – nein, das stimmt nicht. Man legte sich mit in die Kurven, führte die Hunde, indem man die Zügel in die eine oder andere Richtung lenkte, sie lockerte oder freigab. Gleich nach dem ersten Ruck – dem Anfahren – war jegliche Furcht ausradiert. Ich spürte die Hunde, so wie sie mich spürten. Der Wagen mit der sitzenden Begleitperson, die sechs hintereinander geschalteten Tiere, ich als Dirigentin verschmolzen zu einer stimmigen Einheit, die rechtzeitig bremste, „Gas“ gab, sich in die Schleifen schmiegte. Immer wieder stoppte der lange Tross, weil ein Schlitten umkippte, die menschliche Fracht dabei schmerzhaft hinausbefördernd, ich kuckte in betröppelte, verärgerte Gesichter, doch erreichten die (harmlosen) Malheurs mich nicht innerlich, noch vermochten sie es, mich zu verunsichern. Meine Hunde schienen zu juchzen und zu lachen, so wie ich mich an unserer Geschwindigkeit und Wendigkeit erfreute, an dieser für mich neuen Erfahrung. Ich sah die Fichten und Kiefern vorübersausen, spürte die Buckel der Schneeverwehungen, fühlte die eigenen, angespannten Muskeln, die Anstrengung insbesondere in den Oberarmen und – schenkeln, während der Wind mir kalt ins Gesicht peitschte – wie schön, tatsächlich: wie schön!! Nach der viel zu kurzen Fahrt, als wir abstiegen, uns sammelten, trat meine Begleitdame an mich heran, mir ins Ohr flüsternd: „Eine Anfängerin wie dich habe ich noch nie so mit den Hunden klarkommen erlebt!“
Wesentlich beschaulicher ging es während der Fahrt auf den Rentierschlitten zu. Ein Rentierhinterteil ist wirklich bezaubernd. Allerdings hockten wir im Grunde lediglich auf einem bekuften Provisorium aus Holzlatten knapp über dem Boden, Decken oder gar Polster gab es nicht. Die Dunkelheit senkte sich herab. Dieses Mal ließ ich mich völlig passiv ziehen, es gab für meinen Körper nichts zu tun, als zu zittern, was ich zunächst mit humorvollen Scherzen quittierte. Aus dem Bibbern wurden Zuckungen, die sich steigerten, meine Zähne klapperten, ehe sie heftig aufeinander schlugen, ich schnappte nach der eisigen Luft, die meine Lungen nicht mehr zu füllen schien, meine Bronchien zogen sich zusammen, als erlitte ich einen Asthmaanfall. Erschrocken wurden andere Teilnehmer auf mich aufmerksam (zum Glück ist das nicht peinlich). Ich streikte schließlich, man setzte mich in ein enges, stickiges traditionelles Zelt der Samen, gefertigt aus Fell und Häuten, stockfinster, abgesehen vom spärlichen Flackern des kleinen, zentral platzierten Eisenofens, der aus dem vorletzten Jahrhundert zu stammen schien. Auch im Zelt konnte man nicht von einer molligen Temperatur sprechen, nur das Metall des Ofens war heiß, brutal heiß, sodaß ich befürchtete, meine Stiefelsohlen könnten schmelzen; trotzdem hatte ich meine Füße dort abgestellt, war ich so nah wie möglich an den Ofen herangerückt, hauptsache, ich konnte wieder atmen, selbst wenn es ungut nach Ruß und feuchtem Holz roch.
Am nächsten Morgen, es war der Tag des Abfluges, schien zum ersten Mal während unseres Aufenthaltes die Sonne. Sie gleißte uns heiter verspottend hernieder, Ilka und ich schwitzten heftig in unserer Kleidung. Egal, wir hatten innerhalb kürzester Zeit viel entdeckt und angeschaut, das nette, gepflegte Städtchen Tromso mit seinen bunt gestrichenen Zuckerbäckergebäuden, das Aquarium (trotz Bedenken hinsichtlich des Tierschutzes), das spannende ethnographische Museum; hatten an einem idyllischen Winterfjord genächtigt, an den erwähnten Schlittenfahrten teilgenommen, uns den einen oder anderen Drink gegönnt, Schlehenschnaps etwa oder Rum Cola (der einzige „Cocktail“, der ausgeschenkt wurde – die Einheimischen gaben Bier den Vorzug). Nun brachte uns ein Bus zum Flughafen; wir unterhielten uns gerade wieder darüber, wie ungewöhnlich heiß dieser lichte Tag geraten war und wie stark er die Umgebung veränderte von der Stimmung her, alles glitzerte und glänzte, als mein Blick auf das Außenthermometer einer Apotheke fiel: digital zuckende Zahlenlettern zeigten Minus zwei Grad Celsius an… Halleluja.
Nur Wochen später sollte ich das verlockende Angebot aufstöbern, mit dem Naturfotografen Audun Rikardsen, der zufällig als Professor für Meeresbiologie in Tromsø lehrt, nach Grönland auf Fotoworkshop zu gehen. Ich kontaktierte ihn via Mail, an mir zweifelnd wie immer, ihm meine Bedenken darlegend, ob meine zart besaitete Konstitution denn Grönland überhaupt gewachsen sei oder ich zur Bürde für die Gruppe würde. Rikardsen antwortete knapp und trocken: wer Tromsø im März überstanden habe, der könne auch Grönland im September mit links meistern… Somit jedenfalls verdanke ich Ilka und ihrem strahlenden Gesicht indirekt eine meiner beeindruckendsten Touren (vgl. Beitrag 9 und 10), die ich immer ganz tief in meiner Seele tragen werde.