9, Teil I: Sängerin Adele grüßt in Grönland
Grönland, September 2017.
Licht fiel flutend hell durch die gleißende Scheibe, einen warmen, breiten Streifen auf den kleinen Rundtisch werfend, auf dem ein mit Kakaopuder bestäubter Cappuccino unaufgeregt vor sich hindampfte, während aus unsichtbaren Lautsprechern Adele sang: „Hello. It´s me.“ Winterbekleidung türmte sich um mich herum auf, der dicke, meerblaue Outdoormantel, ein Paar schwarze Merinoarmstulpen, Wollhandschuhe, ein breites Stirnband, der lange, rosa Schal, ein Konglomerat an Textilien, das man im Raum des Cafés für übertrieben halten mochte, jenseits der Türschwelle allerdings sehr schätzte, wenn einen der Hauch der vorübertreibenden Eisberge frontal traf. Auch wenn es im Reiseführer erwähnt worden war, hatte einen nichts auf diese Stille vorbereiten können, ein knisternes, raunendes, uraltes Nichts, durch das die eigenen Gedanken plötzlich schreien, entfesselte Geister des Unterbewußtseins, die aufkommen zu hören in der gewohnten westlichen Zivilisation unmöglich war. Einige wenige Tage erst waren vergangen, seit mich ein Flieger von Kopenhagen zunächst nach Kangerlussuaq südwestlich und später Ilulissat etwas weiter nördlich gebracht hatte, Tage angereichert mit Programm, Erlebnissen, Eindrücken, Konversationen, die die Stunden ausdehnten und steigen ließen wie heliumgefüllte Ballons, und so aus Tagen empfundene Wochen erwuchsen. Ich hielt die heiße, grobe Keramiktasse zwischen den Händen dicht am Mund, genoß den Sonnenschein und den Blick hinaus auf die Straße, auf der Leben und Ruhe zugleich herrschten, Einheimische, die ohne Hektik einem Ziel entgegenschritten, das ein Verwandter sein mochte, der Hafen, wo eine der seltenen frischen Walfleischlieferungen eingegangen war, der Supermarkt oder auch nur eine Stunde außerhalb der eigenen vier Wände. Zwei Buben von vielleicht acht Jahren mit Schulränzen auf dem Rücken betraten das Café, bestellten und ließen sich samt riesigen Tellern voller Pommes Frites und Burgern nieder – heute auf Moschusochsenbasis anstatt Rentier, wie auf einer Kreide bekritzelten Tafel am Tresen zu vernehmen war. War es nicht verrückt, ausgerechnet eine aufgrund von Besuchermangel umfunktionierte Diskothek aufzusuchen, um Kaffee zu trinken, obwohl man bloß einen einzigen Viertelmonat zur Verfügung hatte, um Grönland – einen winzigen Part davon – zu entdecken? War es nicht banal, britischen Popballaden zu lauschen, während draußen die Abenteuer, welche und wo immer, warteten? Ein Notizheft lag geöffnet vor mir, daneben die Kamera – jene aus den goldfarbenen Kartons… -, die normalerweise Ärger durch Neid anderer Reiseteilnehmer erregte, in dieser Gruppe hingegen als winziges Baby galt, ähnelten die übrigen Objektive eher Kanonenrohren denn Kamerainstrumenten, 600 Millimeter als Mindeststandard… Alles eine Frage des Standpunktes, der Orientierung, des Vergleichmaßstabs. Ich sah mich selbst reflektiert im Fenster, studierte die eigenen Augen, verschattet vor Übermüdung, gefaßt von zarten Krähenfüßen, die Haut trocken, gereizt, schuppend von beißender Kälte. Ich fragte mich, wie es möglich war, daß ich hier saß, in einem der würfelförmigen, bunt gestrichenen kleinen Spitzdachhäuser, die sich Rot, Gelb, Blau, Grün, Grau an die hügeligen Felsen klammerten, zusammengehalten von organischen Bändern aus asphaltierten Straßen, gesprenkelt von orangenen Flechten und niedrigen, zitternden Gewächsen, filzig-haarige Blümchen, falbenfarbene Gräser, im Hintergrund erbleichende Zwergweiden und winzigste, errötende Birken zwischen Krähenbeeren und weiterer arktischer Botanik, nichts davon höher reichend als bis knapp über den Knöchel. Die Ortschaft, Heimat von knapp viertausend Einwohnern, war nicht unbedingt als schön zu bezeichnen, und zugleich barst sie vor Atmosphäre, die sich mit jeder wandernden Wolke, jedem Regentropfen, jedem neuen Eisberg draußen vor der Küste wandelte wie ein landschaftliches Chamäleon. Der Hafen quoll über vor Booten, Schiffen, Kähnen in jeder Größe und Verfassung, dennoch eine Ordnung aufweisend, die an Akkuratesse grenzte. Rohes, blutiges Fleisch wurde direkt von Nußschalen, die kaum dem Ozean zu trotzen vermochten, an private Einkäufer in Plastiktüten weitergereicht, es roch nach Salz und dem allgegenwärtigen Heilbutt. Alte Menschen, meist Männer, mit fehlenden Zähnen und eingefallenen, runzligen Wangen saßen auf Bänken nebeneinander aufgereiht, in der Hand Spazierstöcke. Grüßte man sie mit einem laxen, dänischen „Hej“, strahlten sie einen an, als habe man ihnen den Tag gerettet – having made their day, wie ich es in Englisch gesagt hätte, denn mein Denken vollzog sich bereits in englischer Sprache. Noch einmal langte ich mir verwundert an den Kopf. Es war surreal, in diesem Café zu hocken, so als sei man verloren gegangen und warte darauf, abgeholt zu werden von jemandem, der die Verantwortung trug; Geschichten haben viele Anfänge, und den ersten, wirklichen zu ermitteln, wäre nichts als philosophische Haarspalterei, sodaß man es sich einfacher machen konnte und sagen: es habe alles begonnen mit einem großformatigen Foto inmitten etwa 150 anderer solcher, gepinnt auf transportable Wände in einem stickigen Halbdunkel, durch das hindurch Menschen sich unterhielten, lachten, staunten, einen anrempelten oder ungeduldig weiterzuschieben versuchten. Jahr für Jahr suche ich diese Ausstellung auf, die Creme de la Creme an Naturfotografien, gewürdigt und gekürt vom Londoner Naturhistorischen Museum und der BBC. Nur daß es dieses eine Mal anders war als sonst. Daß ich dieses Bild sah, ein Hochformat in Chiaroscuro, beinahe eine Grisaille obwohl in Farbe, ein Walrücken bei Nacht, eine Finne wie ein Schwert, und das Wasser des brodelnden, urtümlichen, ewigen, weisen Meeres von wabernden Schleiern umgeben, die Feentänzen gleich eine Aura unvorstellbarer suggestiver Kraft erschufen. Und ich merkte mir den Namen, fuhr daheim den PC hoch, googelte die Homepage, in der puren, ahnungslosen Absicht, einen Print zu bestellen, nur um plötzlich einen kurzen Text zu lesen, eine Ankündigung für einen Foto-Workshop in Grönland. – Nein. Zu kalt. Zu teuer. Es wäre gewiß dabei geblieben, bei diesem Nein, hätte ich nicht irgendwann aus leiser Langeweile heraus während einer Mahlzeit ein simples Fernsehprogramm durchblättert, ich, die überhaupt nicht Fernsehen schaute üblicherweise, als sich also ein Artikel ausbreitete vor mir, welcher von einem norwegischen Professor für Meeresbiologie handelte, der einen sich in einem Internetkabel verfangenen Wal aus dieser äußerst mißlichen Lage befreit hatte, zusammen mit der Küstenwache. Der Retter trug den gleichen Namen wie der Wochen zuvor bewunderte Fotograf – man muß im Leben die Zeichen nehmen, das ist das Geheimnis, und man muß Großes erkennen können, wenn es vor einem liegt. Ohne taugliche Ausrüstung, genügend Wissen, Laptop, ohne Alles buchte ich den Workshop, der von einem skandinavischen Veranstalter ausgerufen worden war, sodaß ich die einzige Deutsche sein würde und sechs Flüge binnen einer Woche zu absolvieren haben – bei nicht kurierbarer Panik während Start und Landung. Manchmal ist das Irrationale das einzig Vernünftige, das zu tun einem bleibt.