89 Die besondere Bedeutung eines Ortes
Galápagos, Juli 2009.
Die Inseln selbst sah ich von meinem Fensterplatz aus nicht, bloß unzählige Schaumkronen, als man allmählich die Landung vorbereitete. Nun allerdings machte sich meine überwunden geglaubte Flugangst wieder bemerkbar. Der Sinkflug dauerte lange, sehr, sehr lange, die Wellen rückten näher, wo nur mochte das vermaledeite Land, auf dem man zu landen gedachte (welch ein Wortspiel!) bloß bleiben? Die Furcht in meinem Magen wurde stärker, mein Herz klopfte aufgeregt – „Oh!“ dachte ich mir, plötzlich abgelenkt, „eine Schildkröte, wie nett!“ Und ich spähte neugierig durch das Fenster, das mir eine Meeresschildkröte in den Fluten zeigte, wie sie schnell ein paar Züge Sauerstoff tankte. „Moment mal“ durchfuhr es mich schlagartig. „Wie tief sind wir denn schon, daß ich eine Schildkröte in allen Einzelheiten erken-“ Mit einem sachten Hupfer setzte die Maschine auf, rollte wenige Meter weiter und blieb stehen. Willkommen auf Galápagos.
Schwarz und mächtig fielen die Felsen ab. Es roch nach Guano. Tausende Blaufußtölpel und Albatrosse tummelten sich auf der Landschaft aus Lavagestein. Jagend stießen sie ins Meer, mit ihrer Beute im Schnabel in den Himmel zurückschießend. Ich schmecke noch das Salz der Brandung. Ich höre sie schlagen, aufspritzen. Ich fühle mich dort in meinem Körper, fühle den Pferdeschwanz vom Wind zerzaust an meinen Nacken schlagen. Ich sehe das Blau, diesen phänomenal intensiven Farbton, spüre, wie der Ozean einmal wieder ruft, mich ruft.
Die sanfte Strömung wiegte mich hin und her wie einen Säugling. Das mich umgebende Naß war warm, tröstlich, lebendig. Muschel- und Korallenstückchen wurden zu Millionen mal in die eine, dann in die andere Richtung bewegt, wobei sie leise und hell klimperten, unablässig, Musik der Küste. Ich war nun seit neun Wochen unterwegs, hatte viel gesehen, gelernt, unternommen, Außergewöhnliches genauso wie Unangenehmes, ich war ein klein wenig gereift, hatte Geduld beigebracht bekommen, Organisationsvermögen, Selbstbehauptung. Ich fühlte mich frei, schwerelos, auch emotional, wie ich vom Meer geschaukelt wurde. In diesem Moment beschloß ich, meiner Schwester zu verzeihen, mit der ich seit mehr als einem Jahr kein Wort gewechselt hatte. Ich spürte Vergebung. Es würde weitergehen mit uns, wir würden uns aussöhnen in ein paar Wochen, wenn ich heimgeflogen sein würde nach Deutschland.
Auf dem Festland Ecuadors, in Guyaquil, nach phantastischen sieben Tagen Galápagos (vgl. Einträge 1, 3 und 57), stellte ich ein Paket zusammen mit ein paar unterwegs gesammelten Souvenirs für meine Familie – grellgrüne Minzkekse, Inka-Cola (chemisch-gelb, scheußlich, kultig), auf Indianermärkten erstandene Stricksachen -, brachte es zur Post und gab es dort für horrendes Porto auf. Erst danach – es war mir ein extremer Drang gewesen, ein absolutes Bedürfnis, dieses Paket sofort abzusenden – checkte ich meine E-Mails. Eine stammte von meiner Mutter. Im Betreff las ich Große Trauer. Meine Schwester hatte sich das Leben genommen.
Azoren, Juni 2012.
„Und welche Touren hast du so unternommen bisher? Wo gefiel es dir am besten?“ fragte Wolfi, der ungekrönte King-Globetrotter unserer netten Gruppe, mich.
„Galápagos.“ sagte ich spontan.
„Galápagos ist doch mega ätzend!“ kommentierte unser Guide meine Antwort. „Von all meinen Reisen echt der beschissenste Ort! Lauter kaputte Natur und Massentourismus, nee, ich leite auch keine Touren mehr dahin, da weigere ich mich, so was von schrecklich.“
„Ich fand´s toll dort.“ murmelte ich.
Die Aufmerksamkeit der Gruppe war längst bei einem anderen Gespräch. Es handelte von seltenen Orca-Filmaufnahmen in Patagonien.
Vielleicht hätte ich auf Wolfis Frage doch eher mit Oman antworten sollen.