85, Teil I: Große Geste
Kairo, April 2008.
Seit einer Woche herrschte eine phänomenale Hitze, Abgase stiegen mir unaufhörlich in die Nase, die ich mich mit einem Gewimmel konfrontiert sah, das ich bisher nur aus Dokumentationen kannte, wuselnde, sich die Straßen entlangschiebende Menschenmassen in arabischer wie westlicher Kleidung. Die breiten Fahrspuren waren bevölkert von rasenden Blechlawinen, knatternden Mopeds, Eselgespannen, Viehfuhrwerken, akustisch begleitet von den Trillerpfeifen der unbeachteten Verkehrspolizisten, vom Dauerhupen und Rufen, die jedem und keinem galten. Ich war in der Ruhe des bayerischen Landes aufgewachsen, lebte damals im beschaulichen Schwabing in direkter Nähe zum Kleinhesseloher See des Englischen Gartens. Drückend-stechende Wärme, permanente Hektik, lauter Trubel, olfaktorische Verwirrungen, bohrende Blicke der jungen Männer, all die Fremde und permanente Bombadierung von Eindrücken jeglicher Art und Couleur hatten sich mir noch nie so geballt aufgedrängt, dazu der erste, echte Kontakt mit Armut jenseits eines Fernsehbildschirms: eine Ader an meiner Schläfe pochte, ohne daß ich es deutete.
Wir, eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Studenten unterschiedlichster Fächer, die sich über ein Bewerbungsverfahren qualifiziert hatten, passierten eines der nicht von Touristen frequentierten Viertel, in denen der Müll verschmolz mit den brüchigen Behausungen; diese Wohngegend hier ging sogar nahtlos in das Friedhofsgelände über, das nun mehr Atmende beherbergte als Dahingeschiedene. Polizei war aufmerksam geworden auf uns, die Beamten, hell uniformiert und das Maschinengewehr griffbereit, versuchten uns wegzuscheuchen wie lästige Fliegen, uns jegliches Foto strikt verbietend. Kinder mit struppigen Haaren blickten uns stumm hinterher, ein paar verfolgten uns, um Kugelschreiber bettelnd. Sie waren in staubige Kleidung gehüllt, die schlecht saß, ein kleines Mädchen trug einen dreckstarrenden, viel zu lockeren Verband um den Arm. Magere Kätzchen maunzten unbeachtet in der Gasse vor sich hin. Meine Zimmergenossin und ich bildeten das Schlußlicht, sie humpelnd und jammernd, denn sie hatte leichtsinnigerweise Flipflops getragen, sich damit die Zehenzwischenräume aufgerieben, bis große, entzündete Blasen entstanden waren. Als wir einmal kurz hielten, weil unser Professor mit den Polizeibeamten diskutierte – man wollte uns den Zugang zu einer Moscheeruine nicht gewähren, die auf unserem Exkursionsprogramm stand -, tippte plötzlich eine Frau mittleren Alters meiner Zimmergenossin auf die Schulter. Argwöhnisch blickte diese die Frau an, die das obligatorische Kopftuch zu verhüllendem Gewand trug; in der Hand hielt sie ein sauberes Pflaster – welch ein kostbarer Schatz in dieser Gegend! -, damit sie es sich auf die wunde Stelle am Fuß kleben konnte. Ich war bis auf die Grundfesten meines Seins berührt von dieser großzügigen, großherzigen Geste, die keiner Worte bedurfte.