8 Ein Nobelpreisträger tritt mir in den Po
München, November 2017.
Ich weiß nicht, weshalb ich es nicht einfach zur Seite räumte, aber stets wieder glotzte mir das Cover des am Vorabend ausgelesenen Buches entgegen, Was vom Tage übrig blieb, die fiktive Rückschau eines getreuen, Pflicht besessenen Butlers auf das eigene Leben, das nach strikten persönlichen Prinzipien geführt worden war und sich gegen Ende – in der Abenddämmerung sozusagen – als falsch gestaltet, vielleicht – nur vielleicht! – gar als vergeudet erweist. Es hatte mich auf eine gewisse Art sehr aufgewühlt, denn auch ich neige zur Loyalität gegenüber Ordnung, Tradition, Moral und frage mich häufig, ob ich dadurch nicht irgendwie am eigentlich Sinn und Zweck vorbeilebe, ohne daß ich Sinn und Zweck näher benennen könnte. Ich fühle mich manchmal so unglaublich brav und wollte mir nur deshalb ein Tattoo stechen lassen, fürchtete aber eine Auswirkung der Farbpigmente auf den Körper, hatte zum Beispiel gehört, daß die Fremdstoffe angeblich die Blut-Hirn-Schranke überwinden können. Also beschloß ich, stattdessen einen Bauchnabel-Piercing zu tragen, bis mir die Heilpraktikerin vehement davon abriet, weil durch den Nabel einer der bedeutendsten Meridiane fließe und gemäß TCM das Gleichgewicht empfindlich gestört würde durch diese Art des Körperschmuckes. Ich blieb brav. Oder eher: vernünftig.
Es ist nicht so, daß ich meinen Jahresurlaub zusammengekratzt hätte und alle meine Ersparnisse für diese Reise nach Bali. Seit Ende meines Studiums 2009 hatte ich unzählige, mehr oder weniger größere Touren unternommen, die vier Kontinente – Europa, Afrika, Lateinamerika, Asien – umfaßten und völlig unterschiedlicher Natur waren. Trekking, Schnorcheln, Kultur, Erhebung von Daten im Rahmen einer biologischen Forschung, ein Wal-Camp samt Lesungen, ein Foto-Kurs; auf eigene Faust, in kleinen Gruppen, mit lose befreundeten Reisegefährten; frierend in eisigen Zelten, luxuriös in Orientzauber-Hotels, unter schwersten hygienischen Bedingungen und mit allem erdenklichen Komfort. – Bali. Der Plan war gewesen, an einem Korallen-Workshop teilzunehmen, geleitet von einem deutschen Meeresbiologen, und im zugedessen den Tauchschein zu erlangen. Ich wollte an die Azoren anknüpfen, an Galapágos und an Grönland, wollte die Seele wachsen lassen und Freiheit finden.