75 Machen statt (Dis)Liken
München, April 2019.
Manchmal, wenn ich meine eigenen, online gestellten Beiträge lese, denke ich mir: Das klingt nach einem Angsthasen. Überheblich. Nach verkitschtem Pathos. Inhaltlich banal. Man selbst fragt stets nach dem Gut genug.
Ich bin kein Teil der Hochglanzwelt: meine Fotos genügen dieser Art der Perfektion nicht (weil sie es gar nicht wollen), meine Interior-Gestaltungen ebensowenig, meine Weise, mich zu kleiden, zu schminken, zu frisieren, mein Leben zu führen. Mir werden nicht binnen kürzester Zeit 18.000 Menschen „folgen“, wie es eine gute Freundin verdient mit einer hervorragenden Instagramseite geschafft hat (mittlerweile sind es über 239.000); ich gewinne keine Wettbewerbe wie nähere Bekannte und darf mich nicht in Magazinen oder gar Büchern veröffentlicht sehen, heutzutage eine Kränkung der narzistischen Ader, das muß erst einmal ausgehalten werden.
Ich träume nicht von Ruhm, Geld oder Macht, vom „Influencen“. Ich sehne mich nach Resonanz, nach Inspiration und Austausch.
Es ist sehr bequem, ein Bild anzuklicken und zu bewerten. Klick – Like (oder Dislike). Fertig. Das Frühstücksspiegelei des Fitness Trainers (um genau zu sein Plural, drei davon als zweites Frühstück, Proteinboost!!). Kußmund Nummer 78, dieses Mal in tiefem Fuchsia (wirklich herrlich volle Lippen). In der U-Bahn kucke ich einem Mädel über die Schulter, das sich ein Video auf dem Smartphone anschaut: eine andere junge Frau, die im Supermarkt einkaufen geht, ein schlenkernder Korb, die Glastür der Kühltheke öffnet sich, es wird Yoghurt entnommen. Ich mustere das Mädchen, das gebannt auf sein Display starrt. Ich blicke mich um in dieser U-Bahn und weiß, daß ich die wohl einzige bin dort, die das ziemlich grotesk findet, geradezu empörend. Um nicht zu sagen: absurd. Ja, die Absurdität unserer Gesellschaft irritiert mich.
Aber es gibt noch die anderen. Diejenigen mit den echten Erfahrungen, echten Ideen, Projekten, Leistungen, Leute wie die Sailing Conductors, die einem breiten Publikum begeisternde Geschichten erzählen können, weil sie kreativ, mutig und in erster Linie handelnd (nicht klickend, wischend, likend) Visionen entwickeln, denen sie ausdauernd nachgehen. Die Erlebnisse der beiden lassen sich demnächst (ab Ende Mai in den deutschen Kinos) in einem Film, Blown Away, mitverfolgen – eine authentische Art des „Folgens“, eine Rezeption und Auseinandersetzung, für die man seine winzige virtuelle Display-Welt kurzfristig tauschen muß mit einem Saal voller Publikum. Ich klinge zu zynisch, es tut mir leid. Aber ich mag diese aufgeladene Atmosphäre eines blau gedimmten, überheizten Kinosaals so sehr, dieses Miteinander einer Masse Fremden, die das gleiche Interesse am gewählten Film teilt, zumal wenn es sich um Art House – Produktionen handelt.
Die Geschichte der Sailing Conductors jedenfalls verknappt dargestellt: einer der beiden Jungs verpaßt nach dem Studium in Australien seinen Rückflug gen Deutschland und beschließt kurzerhand, in einem frisch gekauften Boot, ohne im Besitz eines Segelscheins zu sein, binnen mehr als vier Jahren auf Umwegen „heim“zuschippern, in Begleitung eines ebenfalls see-ungelernten Kumpels, und kontaktiert währenddessen unzählige Musiker aus über 30 Ländern, trifft sie und (als studierter Tontechniker) nimmt sie professionell auf. Die CD – Songs for Marianne – habe ich selbstverständlich ohne Umschweife bestellt, ja, ohne überhaupt erst hineinzuhören: allein der Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte lockte mich übermächtig.
Oft frage ich mich, wie die das hinkriegen: wie kommt es, daß sie ihre eigenen Lieder im Radio hören, vielleicht sogar in einem brasilianischen Fußballstadium nach gewonnener Weltmeisterschaft, daß ihre Romane in großen Verlagen erscheinen mit hübschen Covern, ihre Häuser vom Papier auferstehen und sich in Stein, Holz, Stahl verwandeln? Wie wird man inmitten einer Großstadt zum Flußsurfer oder eine wissenschaftliche Koryphäe als DNA-Entschlüssler ausgestorbener Spezies, und wie schafft man es, die empfundene Sympathie für einen Menschen in eine Partnerschaft münden zu lassen? Manchmal wünschte ich, ich könnte sie mitnehmen in meinen Kopf, damit sie die Bilder sehen könnten und Geschichten, Gedanken, Ideen, all die bunte Wunderwelt, die Farben und Düfte, wie ein USB-Stick, den man ans Gehirn andockt. Keine Rechtfertigungen mehr, keine hilflosen Erklärungen, man spräche für sich selbst, und die anderen würden staunen. Würden sie das?
Und nun mein Appell nach draußen, hinaus in die virtuelle, bequeme, illusorische Unendlichkeit: mehr von dieser Sorte Mensch, wie die Sailing Conductors sie verkörpern, bitte schön! Mehr Leben, Tatkraft, Ästhetik, Vision! An erster Stelle jedoch: mehr Leben…