65, Teil II: Fremdwort mit drei Buchstaben – TÜV…
Costa Rica, August 2014.
Sogar zum Frühstück servierte man Gallo Pinto, ein Nationalgericht mit schwarzen Bohnen. Der Kaffee indes war ein Gedicht, vollmundig, stark, ohne bittere oder saure Noten, im Nachgeschmack eine Spur von Karamell hinterlassend. Ich hatte am Abend zuvor beschlossen, auf beides zu verzichten, um stattdessen eine Miniexkursion zu unternehmen. Nun um fünf Uhr morgens war es gerade hell genug, daß man ohne künstliche Lichtquellen erkennen konnte, wohin man trat. Ich passierte eine unlängst ereignete Rodung in zügigem Tempo, folgte einem gurgelnden Bachlauf und stieg allmählich an. Die Welt war tintenblau und bestand aus lebendem, Energie aussendendem Pflanzenwuchs. Riesig und kraftstrotzend, so konnte man die Elemente der Landschaft auf einen Nenner bringen. Manchmal quetschte ich mich durch schmale Felsöffnungen, das Gestein behangen mit Hirschzungenfarnen und Moosen. Gelbe Heligonien setzten farbige Akzente, Ficusse erhoben sich ins Unermeßliche, ihre Pfahlwurzeln wie Stützträger uralter Monumente. Große Baumfarne beschirmten mich mit ihren filigranen Wedeln, als umhüllten sie mich mit feinster Klöppelware. Sehr oft flogen bodennah unscheinbare Vögel auf: Costa Ricanische Amseln. Sonst regte sich noch kaum etwas, ich genoß die stummen, vagen Schemen um mich herum, von denen es rhythmisch heruntertropfte, die mystische Atmosphäre, den Eindruck einer stehen gebliebenen Zeit. Außer dem teils zugewucherten Pfad ließen sich hier keine menschlichen Eingriffe erkennen, kein Holzschlag, keine Hinweisschilder, nichts. Lediglich ein paar klapprige Brücken, deren Geländer wackelte und deren Betreten ein unheimliches Quietschen und Knarrzen verursachte, kündeten von Menschenhand. Sie schienen seit der Errichtung vor Ewigkeiten nicht mehr gewartet oder ausgebessert worden zu sein, es fehlten etliche Bodenpartien, war das Eisengeflecht zerfetzt und klaffte ein Loch im Steg, welches Dutzende Meter in die Tiefe führte, dorthin, wo Wasser raunte oder Gesteinsbrocken ruhten. Vorsichtig und konzentriert überwand ich solche Abschnitte, die mir nicht ganz geheuer waren.
Vielleicht hätte ich doch unseren Guide fragen sollen, ob er mich begleitete. Er hieß Bernhi, ein stattlicher junger Kerl, Deutsch hatte er sich autodidaktisch angeeignet, eigentlich war er Biologe voll umweltschützenden Sendungsbewußtseins, doch mit Moral und guten Taten verdiente man bekanntlich arg kümmerlich seinen Unterhalt, weshalb er sich als selbständiger Bergführer verdingte. In seinen freien Minuten las er Paulo Coelho oder erzählte von seinem Vater, ein begnadeter Geigenspieler. Arme und Beine zierten eine Spruchkalligraphie, die ich nicht entziffern konnte. Es fühlte sich an wie ein Déja-Vu. Jedenfalls stand ich jetzt alleine im Wald, hatte niemanden informiert über meinen Ausflug auf eigene Faust, besaß kein Smartphone – besitze bis heute keines – und erinnerte mich eines Gewitters ein paar Jahre zuvor, das den schmalen Wanderpfad binnen Minuten in einen reißenden Bach verwandelt hatte…
Der Boden wurde glitschiger, ich rutschte vermehrt aus. Kaum merklich hellte es auf, man mußte den Kopf in den Nacken legen, um wahrzunehmen, daß die Sonne am Steigen war und herrlich auf das verfilzte, grüne Dachdickicht herabstrahlte. Hier unten blieb es kühl und vage, nur selten regte ein Tier sich, ertönte der langgezogene, einsame Ruf eines versteckten Vogels. Kein überbordendes Morgenkonzert, wie ich es von zu Hause kannte, sondern eher eine Andacht, eine Meditation. Dann stand ich vor dem Hindernis: eine marode Brücke war vergessen in den Wald eingegangen, hatte sich mit ihm verbunden; das linke Geländer fehlte, der Steg bestand einzig noch aus dem Gerüst, das den Tritt haltende Metallgeflecht war beinahe vollständig verschwunden, das rechte Geländer neigte sich bei Benützung um satte 45 Grad zur Seite, einen dem Abgrund näherbringend. Ich hörte das Tosen des Wasserfalls, hatte es fast geschafft, mein Ziel erreicht, von dem mich nicht mehr als dieses Brückenrelikt trennte. Es sollte laut Lonely Planet ein imposanter Wasserfall sein, dem ein natürliches Becken vorgelagert war, in dem es sich wunderbar schwimmend und planschend erfrischen ließe. Irgendwie verlief diese Reise nicht rund: Ständig mußten wir das Programm ändern oder entfielen irgendwelche Punkte, wurden ersatzlos gestrichen, weil etwas dazwischen gekommen war: am Poás-Vulkan konnte man nichts sehen aufgrund der Nebelwand und des Graupels, der Arenal-Vulkan war für die Besteigung gesperrt, seit vor einigen Jahren ein Amerikaner spurlos verschwunden ist, der Cherro Chato zu verschlammt, um dort genußvoll zu hiken, für den Chirripó-Aufstieg hatte die Agentur keine Permits kriegen können – ect. ect.! Jetzt verwehrte mir der Respekt vor dieser Alteisenkonstruktion den letzten Abschnitt zum Wasserfall… Ich seufzte, weil ich – wie immer – vernünftig blieb. Dann blickte ich um mich und wußte: die leichte Wanderung allein im Morgengrauen hatte sich gelohnt…
Am nächsten Tag erwischte ich zwei Kapuzineraffen dabei, wie sie mein zum Trocknen aufgehängtes Badezeug von der Balkonbrüstung mopsen wollten. Ich rettete Handtuch und Bikini, hechtete an die Schlafzimmer-Kommode, wo die Kamera griffbereit abgelegt war. Ich wollte die Diebe protokollieren. Die hatten sich mittlerweile aus dem Staub gemacht, zu meinem Verdruß. Es währte nicht lange, bis ich ein anderes, williges wie anmutiges Modell erspähte: Ein Kolibri demonstrierte mir auf violettem Eisenkraut balancierend seine ganze Pracht, ein Geschenk, das ich gerne annahm.