59, Teil I: Adrenalin
Äthiopien, Januar 2019.
„Doris, Doris, mach die Tür auf!“
Im Pyjama und mit gelöstem Haar stand ich auf dem Hotelflur, der zugleich eine zur verlassenen Straße hin offene Veranda war, das Schweizer Taschenmesser aufgeklappt in den Händen haltend, heftig zitternd.
„Bitte, Doris, mach auf!“ Mein Flüstern nahm einen panischen Ton an. Ich lauschte in der Dunkelheit auf die Stille draußen, die ich noch unheimlicher fand als die Detonationen und Schüsse Minuten zuvor. Endlich öffnete sich die Tür, ich schlüpfte ins Nachbarzimmer, wo sich bereits der Rest der Gruppe – wir waren bloß zu viert dieses Mal – versammelt hatte, und zwar im Düster hinter dem Bett kauernd, ein im Taschenlampenkegel sonderbares Bild, das nicht dazu beitrug, mich zu beruhigen. Uns gingen die Informationen des Auswärtigen Amtes durch den Kopf, wo man vor Anschlägen auf Touristenunterkünfte in Gondar warnt; am Vortag in Addis Abeba war uns eine bizarre „Begrüßung“ zuteil geworden, als bewaffnete Portiers mit Handspiegeln den Unterboden unseres Kleinbusses nach Sprengstoff gecheckt hatten.
Das laute Schreien und Rufen draußen war mittlerweile verebbt, das Jaulen der Hunde verstummt, man vernahm nur noch hektische Schritte, gelegentlich verzerrte, knisternde Funkgerätstimmen. Es blinkte blau und rot auf vor dem Fenster, das wir mieden, ein gespenstisches Flackern im absolut nachtschwarzen Hotelkomplex, in dem der Strom urplötzlich erloschen war, kurz nach diesem ersten lauten Knall halb zehn Uhr abends, nach dem sich wiederholenden Zischen als seien Feuerwerkskörper gezündet worden, den etlichen Schüssen, immer aufs Neue: Peng! Peng, Peng, Peng, Peng!, den angstvollen Satzfetzen des Personals. Waren wir in einen Überfall geraten? Handelte es sich um einen terroristischen Akt?
Nach einer Stunde der fast unerträglichen Ungewißheit sprang die Deckenleuchte wieder an. Wir erhielten Entwarnung vom Resortmanager selbst, tadellos gekleidet in einen hellbraunen Anzug, die Brille geputzt, das Haupt gestriegelt: die „kleine“ Angelegenheit sei lediglich ein im die Anlage umgebenden Eukalyptuswald ausgebrochenes Feuer gewesen… Es roch tatsächlich harzig-verbrannt. Aufgrund eines Mangels an Sirenen werden Gewehre und Böller sowie andere Lärmquellen als Signal dafür verwendet, daß ein Löschzug unten vom Tal herauf benötigt würde. Als ich in mein eigenes Bett stieg, dauerte es eine ganze Weile, ehe der Puls sich normalisiert hatte, mir die Lider schwer wurden und ich bereit war, einzuschlafen. Da hallen unvermittelt abermals Schüsse durch die Luft, da bellen und geifern die Hunde wie rasend: das Feuer ist noch nicht gebannt. Ich denke über Kohlenmonoxidvergiftungen nach, denn der Feuermelder an der Decke ist ein verstümmeltes, untaugliches Relikt, eine Farce. Erledigt von der Anreise gleite ich trotzdem irgendwann ins Reich der Träume hinüber. Es sollte dies der Auftakt zu einer meiner schlaflosesten Reisen werden, bei der ich sogar auf eingetauschtes Valium zurückgriff, nur um wenigstens ein paar Stunden Erholung zu erlangen…
Ich lernte Leonel am zweiten Zeltplatz des Simien-Trekkings kennen, ca. 110 Kilometer Strecke auf bis zu 4500 Metern Höhe mit täglichen An- und Abstiegen von bis zu 1400 Höhenmetern in wechselnden Klimazonen unter hygienisch schwierigsten Bedingungen. Jenes Camp, Ambico, lag nahe eines vibrierenden, lauten Dorfes, in dem Ziegen meckerten, Esel schrieen, Babys greinten, Erwachsene sich Unverständliches zuriefen, Kinder plärrend um Stifte bettelten, Trommeln heilige Gesänge begleiteten. Ich bot Leo etwas von unserem gesalzenen Popcorn an, aus Höflichkeit und weil er ganz alleine unterwegs war, abgesehen vom obligatorischen Scout mit geschultertem Maschinengewehr russischen Fabrikats. Mit vollen Backen stellte Leo sich sogleich freimütig vor als Uruguayer, der seit sechs Jahren – bitte einmal festhalten – im Kongo lebt, dort zunächst als Blauhelmsoldat, dann als Militärpilot der UN arbeitend. „How do You think about soldiers?“ sollte er mich Pazifistin später fragen. Jedenfalls war er gut gebaut, hübsch, charmant und extrem redebedürftig; wie er überhaupt zu Extremen neigte, die aus unermeßlicher Unternehmungslust resultierten. Er hatte den sturmumtosten Atlantik in einer Nußschale gequert, reiste regelmäßig einzelgängerisch 4-Wheel durch Afrika, erkletterte ungesichert Felsüberhänge (was er uns mehrfach demonstrierte am Gipfel des Ras Deshen, Äthiopiens höchstem Berg und des Kontinents vierthöchster), plante aktuell Eistauchen in Rußland – quasi ein lateinamerikanischer Rüdiger Nehberg. Als wir nach dem Abendessen zu zweit auf dem staubigen Erdboden saßen, über uns der fast volle Mond, um uns herum eine Schar Zikaden, die einlullende Konzerte lieferte, kam ich nicht umhin zu bemerken, wie ausgeglichen, gelassen und geerdet Leo auf mich wirkte, für einen Adrenalinjunkie, Sport- und Abenteuergierigen eher ungewöhnlich. Er grinste schelmisch, das liege am Salsa tanzen. Und am Yoga.