50, Teil III: Ein besonderer Typus des Mitreisenden

50, Teil III: Ein besonderer Typus des Mitreisenden

Soqotra/Jemen, März 2014.

Marcel ist auf fast jedem Foto drauf. Meist von hinten oder seitlich, stets selbst fotografierend. Er ist derjenige, der an das Motiv am dichtesten herangeht, ob er anderen dabei ins Bild läuft – nein: daß er es tut – interessiert ihn nicht. Marcel schwimmt am weitesten aufs Meer hinaus (Ganz entsetzt fragte unser Guide in gebrochenem Deutsch: „Aber wo will hin er?!“ Oliver, mein Ehemann auf Zeit, erwiderte trocken: „In den Oman.“ und Mohammed antwortete: „Aha.“, Schulterzuckend. „Doch was Hai?“ …), Marcel zweifelt am östlichsten Punkt der Insel, ob die kleine Landzunge rechts von uns nicht doch noch östlicher liege und fordert Oliver auf, es mit dem Smartphone zu prüfen – schwierig, ohne Mobilfunk-Empfang. Marcel entfernt sich nach sieben Stunden Wanderung während einer kurzen Pause vom Rest der Gruppe, weil er die südlichste Stelle des Pfades erreichen möchte, ohne Bescheid zu geben und bleibt zwei Stunden verschollen, sodaß die kleine Rast für uns anderen recht ausgedehnt gerät. Marcel ist knapp gesagt in vielen Dingen sehr speziell.

Wir hatten gegen die pralle Sonnenwucht eine große orange Plastikplane zwischen die beiden Jeeps gespannt und die Campingstühle darunter gestellt. Es war Mittag. Um halb fünf morgens waren wir aufgebrochen, da hatten 25 Grad Celsius geherrscht. Wir waren nun zu willenlos, um überhaupt nach einem Thermometer zu fragen. Wir genossen unseren Platz zwischen den beiden Fahrzeugen im künstlichen Schatten, den Blick auf das famos türkisene Wasser gerichtet, das beständig raunte und brandete und ein Lied vom Paradies sang. Hinter uns, an das Bergmassiv geklebt, türmte sich eine gigantische Sanddüne auf, weiß, makellos, pur, wunderschön, irrehoch. Sie war wie eine irdene Wolke, fast heilig, Atem beraubend beeindruckend.

„Oh, Marcel.“ stieß Mohammed tonlos hervor.

„Schwimmt er wieder zum Oman?“ fragten wir.

„Nein.“ sagte Mohammed. „Will zu Allah.“

„Hä?“ Allesamt drehten wir uns um. Eine kleine ameisengroße Gestalt stakste den Dünengiganten hinauf. Zwei Schritte vorwärtsschlurfend, einen Schritt zurückrutschend. Sie hinterließ dabei eine häßliche Narbe aus in den Sand gestampften Spuren.

„Das glaub ich jetzt nicht.“ murmelte Oliver.

„Daß er dieses famose Stück Natur entweiht?“ frage ich wütend.

„Nee.“ meinte Oliver gewohnt nüchtern. „Daß der bei fünfzig Grad und höchstem Sonnenstand da oben umeinanderkraxelt.“

Wir beobachteten ihn eine Weile schweigend.

„Und was macht jetzt?“ Mohammeds Stimme hatte wieder einen fassungslosen Beiklang angenommen.

Plötzlich ertönte ohrenbetäubendes Gekreische und Gezeter. Wir sahen Marcel etwas mit seiner Kamera filmen, vom Kamm der Düne herab in ein Gestrüpp hinein.

„Aber – aber – !“ stammelte Mohammed. „Das da unten ist Frauenbadeplatz vom Fluß zum Waschen!! Nicht filmen! Frauen kein Kopftuch! Frauen vielleicht nichts an!“

— „Super Motiv!“ rief Marcel uns schon von weitem grinsend zu.

„Super Arschloch!“ schleuderte ich zurück.

Ganz verdutzt blickte er mich an. „Wieso denn?“

 

Marcel war Jurist in den Fünfzigern. Es hat sich zwischen Oliver und mir eingebürgert, den Typus des speziellen Mitreisenden seitdem kurz und bündig mit „Marcel“ zu umschreiben. Jeder weiß sofort, was gemeint ist. Man fragt dann z.B. den anderen: „Und wie war´s auf La Réunion?“ Und der sagt dann: „Ach, die Gruppe war echt nett, acht Leute, nur einer davon, der war halt ein halber Marcel!“

„Oje. Na, dafür waren die anderen in Ordnung?“

„Ja, voll.“

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