46, Teil II: Meer gefunden
Jordanien, September 2011.
Gut zwei dutzend flügelnder schwarzer Doppelsicheln zierte das blasse nachmittägliche Himmelsblau mit Formen, die zunächst einem Riesenmandala, dann einem X-Chromosom ähnelten. Störche? Kraniche?
Rabenvögel krächzten durch die Unbewegtheit der Wüste, ihr raues, kehliges Rufen widerhallend in der mächtigen Schlucht. Der Wind verschleierte die Sonnenkraft, die ihre Lux hinabdonnerte und das Licht weiß machte.
Die Wände des Wadi Rum waren auf bezaubernde Weise bizarr gestaltet, geschmolzenes Wachs, schockartig erstarrt. Eine langsame, zähe Masse, die sich hinabwand, heruntertroff, Blasen bildete und Schlieren. Sacht wogten die weißen Meerzwiebeln vor einem Firmamentsblau, das hinter den rostroten und honigfarbenen Felskegeln, -säulen, -brücken aufflammte, heiß und reinigend.
Der Sand war rosa, das Gestein lila – oder umgekehrt? Die Seiten verschoben sich, die Wände wanderten, tanzten, langsam, graziös. Der Wind brandete durch die Schlucht, flüsterte mir Geschichten zu, die ich nicht verstand aber sehr mochte.
In eilendem Tempo stiegen wir hinauf; es war der Felsen, zu dessem Fuße unsere Zelte für die Nacht aufgeschlagen warteten. Enge, steile Klüfte zogen wir uns hinauf mit Armen und Beinen, rasch, um den glühenden Abendschein von der Höhe aus zu genießen. Raue Kanten ratschten die Hände auf, glatte brachten die Sohlen ins Rutschen. Es durchdrang die Kargheit ein unerwarteter Duft von Thymian, verschwenderisch, und wir labten uns an der Atmosphäre, die bereits vom Mond angehaucht war.
Über das Schauen vom Gipfel aus verlor sich die Zeit, schrumpfte der Gedankenwust im Kopf auf ein tröpfelndes Rinnsal an Ideen- und Erinnerungsschnipseln zusammen, bis das Bild der Szenerie tief, tief unter uns zu einem Rausch geriet: die Luft, der alles überdeckende Dunst darin, vibrierte ohne zu flimmern oder sich tatsächlich zu bewegen, ein statisches Aufblinken irgendwelcher Teilchen und Partikel. Da wurde das Sandfarbene – ganz gewiß! – mit einem Mal zu großen Teilen blau, ich sah einen sich ergießenden Meeresarm, während die Formen und Texturen ins Rutschen kamen in dieser Vision und die farblich abgegrenzten Flächen anfingen, harmonisch zu kriechen wie ein straff organisierter Schwarm oder ein besonders raffiniert-ausgeklügeltes Werk der Op-Art… Ich erkannte den Ozean in der Wüste und wußte: Ich trage das Meer in mir.