42, Teil VI: Neue kleine Freunde
Äthiopien, Oktober 2014.
Wir hielten am Heiligtum einer Höhle, durch welche ein Fluß träge dahinströmte. Wie überall, wo sich Wasser findet, wurden die riesigen, gelben Kanister aufgefüllt, die den Durst stillen und für ein Mindestmaß an Hygiene im Haushalt sorgen sollten. Zwei Mädchen banden ihren Packesel an einen Baum und sprangen spielend ins Naß. Ich beobachtete eine Frau, die mit angezogenen Knien ihre Wäsche machte, wie sie die einfachen Textilien auf den Felsen klatschte, sie schrubbte und auswrang, in einem festen, fast meditativen Rhythmus, der mich nicht darüber wegtäuschen konnte, daß es sich um harte Arbeit handelte. Ich war beeindruckt von der Eleganz und Anmut, mit welcher die Frau die Wäsche erledigte, die gar nichts gemein hatte mit den überbordenden, schweren, geheimnisvoll schimmernden Stoffauslage des Basars.
Ich nahm erst am dritten oder vierten Tag Notiz davon. Unser Reiseleiter, ein charismatischer Einheimischer aus Addis Abeba um die fünfzig, der ursprünglich aus der Savanne nahe Kenia stammte und als Kind einen gezähmten Leoparden zum Gefährten gehabt hatte, ehe er von christlichen Nonnen fern der Familie unterrichtet worden war und daher lange geglaubt hatte, alle Weißen seien weiblichen Geschlechtes, schirmte uns ab von der äthiopischen Bevölkerung. Wenn wir während der langen Fahrstrecken rasteten, wurden wir in hoch umzäunte, leere Cafés verfrachtet, die einzig uns bewirteten. Wir waren umgeben von fantasievoll besprayten Wänden, genossen kalte Limonade, saßen an ordentlichen Tischen. Das afrikanische Treiben indes zog die Umfriedung entlang, weit über mannshoch, die Zwischenräume oft noch mit Bast ausgestopft. Ich fühlte mich wie im Käfig, fragte den Guide nach dem Grund unseres steten Fernhaltens von lokalen Bewohnern. Seine Schützlinge würden ständig krank, erklärte er eifrig. Die geringeren Hygienestandards nicht gewohnt, mit anderen Darmbakterien ausgestattet, sei es zu schweren Durchfällen und Magenverstimmungen unter den Reisenden gekommen, die aus schlecht gespülten Teetassen getrunken oder von Garküchen genascht hätten. Deshalb greife er nun ausschließlich auf spezielle Touristencafés zurück, die unbedenklich seien. Ich nahm ihm die Erläuterung nicht ab.
Ich wurde unruhig, wollte umherlaufen, mich umschauen, Äthiopien kennenlernen, nicht hermetisch abgeriegelt Süßzeug schlürfen. Spürte ich ihn? Fühlte ich es, daß ich angestarrt wurde? Merkte ich die Präsenz, die sich ergibt, wenn man im Fokus der Aufmerksamkeit steht? Ich wendete meinen Blick zur Zaunmauer hin und erfasste das Oval eines Bubenkopfes, das sich durch eine Lücke zwischen den aneinandergebundenen, dicken Ästen quetschte, die die Umfriedung zum Café bildeten. Ich grüßte ihn mit den Augen, und die leblose Miene verwandelte sich in einen Regenbogen aus Freude. Freude darüber, wahrgenommen zu werden, entdeckt worden zu sein; die Weiße war dem Versteckspiel auf die Schliche gekommen, das heimliche Auskundschaften hatte ein Ende! Ich rückte meine Kamera zurecht und drückte ab. Dann erhob ich mich, ließ Limonade und Guide kommentarlos stehen und betrat die Straße zu jener Stelle hin, wo ich den Jungen noch sehen konnte. Erst jetzt wurde klar, daß sie zu dritt waren, doch nur einer groß genug gewesen, durch die Zaunlücke zu spähen. Wir redeten und lachten, obwohl keiner den anderen verstand. Ich fotografierte das lustige Trio, beugte mich herab und zeigte den Kindern das Bild auf dem Monitor. Die Buben kuckten und kuckten, andächtig, ratlos, leise untereinander flüsternd. Da erhellte sich das Gesicht des Größten der Drei, aufgeregt deutete er abwechselnd auf das Bild auf der Kamerarückseite und das rote T-Shirt seines jüngeren Freundes. Erklärte, lamentierte. Erst allmählich begriffen sie, daß sie ihre eigenen Konterfeis betrachteten. Erst allmählich dämmerte mir, daß diese Kinder sich noch nie zuvor selbst auf einem Foto ausgemacht hatten. Wir alle vier waren gerührt, aufgeregt und Freunde für ein paar Minuten, ehe meine Reise weiterging und ich in den klimatisiert Bus einstieg, in dem mein Guide Stirn runzelnd bereits auf mich wartete.