37, Teil I: Allerheiligen

37, Teil I: Allerheiligen

München, Ende Oktober 2018.

Die Kälte war mir über Hände und Füße in den Körper gekrochen, auch unter die Outdoorjacke; die Finger klamm und erdverschmiert kuckte ich aufs Grab hinab, das im blauen Dämmer sacht vor sich hinstrahlte: magentane Erika, rote Beerenpflanzen, weiße und violette Chrysanthemen, schwingende Gräser, das große zentrale Gesteck mit den Protheen und vereinzelt drapierte kleine, orange Zierkürbisse. Die Kronen der Eschen im angrenzenden Wald explodierten in einem überirdischen Kupferton, als würden Laub und Äste von einem heiligen Feuer verzehrt. Der späte Abendhimmel dahinter war wässrig-jadegrün, durchzogen von roséfarbenen Maserungen, ein grandioses Farbschauspiel über unseren Köpfen, während der Friedhof längst in ein bleiernes Düster getaucht war, welch ein Kontrast. Ich erinnerte mich an das Jahr zuvor, als ein riesiger mystischer, fast vollrunder Mond vor den Fichten geprangt hatte, schwarze Silhouettenbalken, die den Himmelskörper um so prächtiger in Szene setzten. Zufällig befand sich eine kleine Kompaktkamera in meiner Manteltasche – wir fotografieren alljährlich das Allerheiligengrab -, sodaß ich das Wunder aus Licht und Schatten zumindest notdürftig auf ein Bild bannen konnte. Der Feiertag ist mir wichtig – nicht das Spektakel um Verkleidung und Süßigkeiten, sondern das festliche, stille Gedenken der Verstorbenen. Früher war es in Süddeutschland Brauch gewesen, besonders geformte Hefegebäckstücke auf die Ruhestätten niederzulegen, da man glaubte, die Toten würden in dieser Nacht zurückkehren und von den Gaben zehren. Jedenfalls achte ich darauf, um diese Zeit nicht auf Reisen unterwegs zu sein, aber manchmal fällt eine Tour doch auf dieses Datum.

 

Guatemala, Ende Oktober 2016.

Ich habe einige Jahre sehr viel Sport getrieben (vgl. Eintrag 35 und 36). Den extrem definierten Mann, in den ich mich verliebt hatte, konnte ich damit nicht überzeugen. Stattdessen quälte ich mich – in eine Reise geflüchtet – mit schwerer Bronchitis einen Viertausender im mexikanisch-guatemaltekischen Grenzland hinauf, bestieg die Ruinen von Tikal, Yaxha und Co., gab mir größte Mühe, weder im gewagten Straßenverkehr noch im Verlaufe eines Schußwechsels zwischen Straßenbanden, Polizei und Miliz verletzt zu werden, bewunderte Einheimische mit ebenmäßigen Zügen, langen geflochtenen, blauschwarzen Haaren und glänzenden Jadepflöcken in den Ohren.

Es war mitten im Dschungel. Die Gruppe hockte faul auf drei im offenen Rechteck aufgestellten Bierbänken. Der Fahrer hatte selbst gebrannten Schnaps in dünnen Party-Plastikbechern ausgeschenkt, der fürchterlich schmeckte, den ich aber trotzdem großzügig die Kehle hinunterschüttete, anders war es mir nicht möglich, diese Gesellschaft zu ertragen, lauter bissige Nörgler ohne Kondition und Taktgefühl, eine besonders üble Kombination. Es war später Abend, lau und dunkel. Unser Guide hatte tatsächlich eine wild blinkende Diskokugel ausgepackt, die grüne, rote, blaue Lichtflecken umherzucken ließ. Allein stand er auf der Tanzfläche, Karaoke singend an einem Mikrofon, zu lateinamerikanischen Rhythmen aus dem kleinen Ghettoblaster. Mehrmals schon hatte er vergeblich versucht, seine Gruppe zum Tanzen aufzufordern. Ich kuckte mir die dickbäuchigen, mürrischen Personen an, Deutsche in klischeehafter Reinkultur, mich für uns alle schämend. Ich bin eine miserable Tänzerin, besitze null Sinn für Eleganz, Anmut, harmonische Bewegung, bin schüchtern und ängstlich. Doch erhob ich mich, stellte mich zu unserem Guide, der sich stets kleidete wie der junge Indiana Jones, obwohl er leicht übergewichtig und weit in den Fünfzigern war, er trug sogar den entsprechenden Hut. Ich fing einfach an, zu tanzen. Ich war mitten im Nirgendwo des nördlichen Dschungels Guatemalas, ließ meinen Körper der Musik folgen. Den Reaktionen der anderen nach – Fahrer, Guide, Gruppe – war der Anblick wohl nicht der schlechteste, und selbst wenn dem so gewesen wäre, hatte ich genug Klaren gekippt, daß es mich nicht weiter zu kümmern brauchte. Christián, ein bildhübscher Bub von acht Jahren, der Sohn der Lodgebetreiberin, starrte mich mit freudig-glänzenden Augen an, die Wimpern lang und dicht. Ich nahm ihn bei den Händen, anfangs war er zurückhaltender und zaghafter noch als ich, wir tanzten miteinander wie ein Erwachsener es mit einem Kind eben tut: hopsend, jauchzend, uns um die eigene Achse drehend. Der Junge strahlte wie ein Honigkuchenpferd, sein Vergnügen steckte die anderen an. Einem Wunder gleich hielten wir uns auf einmal alle an den Händen, einen großen Kreis bildend, schunkelnd, lachend.

Ich lag in der Hängematte, die erstaunlich bequem und vor der Tür meiner kleinen Kabine montiert war, die einem der Vogelhäuschen im elterlichen Garten enorm ähnelte: eine hölzerne, bunt gestrichene Box mit außerordentlich spitz zulaufendem Pultdach. Es war Nacht, ich hatte einen harmlosen Schwips. Gleich neben mir gurgelte der Bach entlang, glucksend, plätschernd, ein sanftes Schlaflied raunend. Ich schaukelte mich selbst in der Hängematte, den Geräuschen lauschend: fernes Gelächter anderer Campbewohner, Gitarrengeklimper, das Maunzen einer Katze, zirpende Insekten. Ich dachte an den Mann im Fitness Studio daheim in Deutschland. Noch einer, dem ich dummerweise mein Herz geschenkt hatte und der es gar nicht wollte. Irgendwie hatte ich den Dreh im Umgang mit Mitmenschen nicht richtig raus. Und dann fragte ich mich – gewiß nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal -, mit welchem Recht eigentlich all diese Menschen meinen Kopf bevölkerten, mein Wesen, weshalb sie solchen Einfluß ausübten auf meine Handlungen, Emotionen, das Selbstbewußtsein, obwohl sie ja gar nicht Teil meines näheren sozialen Umfeldes waren, weder mit mir sprachen, noch mich achteten.

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