31, Teil II: Ein Gebet
Kenia, Februar 2018.
Ein paar meiner Bilder sind ganz nett geworden. Kein Wahnsinnshot darunter. Überhaupt, wenn man sieht, was die Biologen vor die Linse kriegen oder gar die Profis… Ob ich eine Vollformatkamera besäße. – Bei mir ist es in Sachen Fotografie wie mit dem Clean Eating: ich handle intuitiv, wähle aus, lasse das meiste weg, weil ich es als überflüssig bis schädlich empfinde. Simpel muß es sein und hochwertig, obwohl letzteres zu diskutieren bleibt. Vor der Keniareise hatte ich an einem Text über meine vergangenen dreißig Touren gearbeitet sowie parallel dazu an einem Homepage-Vorhaben samt Bilderverkauf. Nun steht es wieder überdeutlich im Raum, das Gut genug bzw. eben nicht Gut genug. Draußen die Schneedecke gerät ins Glitzern unter dem mittäglichen Sonnenstand. Meine Erinnerungen stecken in Savannenglut und afrikanischer Helligkeit, während die Gegenwart deutschen Februarwinter verkündet, eine bizarre Kombination. Wir pflanzten mit Schulkindern im Rahmen der Plant for the Planet Kampagne fünfzig zarte Jungbäume. Die Mädchen waren begeistert von meinem langen, glatten Haar, das ich ihnen extra öffnete, damit sie es anfassen und mit den Fingern durchkämmen konnten. Einer Zweijährigen auf einer Teeplantage half ich in die Jacke, ihr Strahlen leuchtete mir ins Herz hinein. Ich machte regelmäßig Yoga- und Gymnastikübungen, es tat gut, die Dehnung zu fühlen, die Glieder zu strecken, die Muskeln werkeln zu lassen. Auf einer winzigen Insel, wo nichts weiter stand als unsere Unterkunft, spazierte ich allein durch die Dornen, begleitet von Mückenschwärmen und unvertrauten Geräuschen. Eine halbzahme Eule, sechzig Zentimeter groß, spähte träge vom Baum herab. Ihre großen, schweren Lider waren rosa, als habe sie sich schick geschminkt. Von einem kleinen Boot aus fütterten wie Seeadler mit Fisch an, um effektvolle Motive zu erhalten. Ich sprach viel mit den einheimischen Angestellten, es tat gut. Die Gruppe der Mitreisenden war nett aber mit Ausnahme von Guide Johanna – wissenschaftlich arbeitende Biologin, professionell ausgestattete Fotografin mit Fokus auf Naturaufnahmen, außergewöhnlich attraktiv, intelligent und bei all dem sympathisch und humorvoll – entnervend schal. Ich reise, weil ich Menschen begegnen möchte, deren Geschichte ich aufnehmen kann in mich. Ich meine weder Erfolg noch Karriere, nein, nein. Ich spreche von Leuten als Unikum mit eigener Weltsicht, eigener poetischer Kraft. Eine Kohlmeise mit aufgeplusterten Gefieder späht von der Balkonbrüstung ins Fenster herein. Ich wollte etwas besonderes beginnen, ein 365tägiges Projekt zwischen meinem 33. und 34. Lebensjahr. Ich wollte mir einen antiken Gedenkring kaufen und ihn innen an der Schiene gravieren lassen. Ich wollte. Woher stammt das Wollen eigentlich? Und warum unterscheidet es sich so sehr vom Tun?
Mitte März. Ein Bruch, groß und breit, eine klaffende Lücke wie der Afrikanische Graben, den wir gequert hatten. Grüngelbe Papageientulpen verströmen altniederländischen Flair, könnten einem der Feingemälde entsprungen sein, die die europäischen Schlösser zieren. I miss You when the lights go out, singt Adele. Der kleine Kalender zu zwei Euro ist voll gekritzelt mit Tätigkeiten und Ereignissen, die zwischen diesen und den letzten Zeilen liegen. Der Besuch einer Email-Werkstatt, eines Buchbinde-Ateliers, des Kelly Family Konzertes in der Olympiahalle, der Kinodokumentation Oscar Niemeyer – Das Leben ist ein Hauch über einen brasilianischen Architekten, der fast exakt 105 Jahre alt geworden ist, mehrere Geburtstagsfeiern, z.T. sehr alkoholträchtig, ein Fotoshooting-Termin zum Ablichten meiner Küche (vom Küchenstudio in Auftrag gegeben). So ist das. – Unterwegs in Kenia begegnete ich in einer der Lodges einer ZOOM Reisegruppe, der Veranstalter, mit dem ich unter Leitung Rikardsens und Egevangs Grönland kennen- und liebengelernt hatte. Deren Guide war knapp unter dreißig, gehbehindert, sehr aufgeschlossen und der Sohn des Chefs. Er interessierte sich für meine Fotografie, ich mich für seine Indientouren (bisher 17 Stück…!). Ich bin dankbar für die kurzen Gespräche, die wir miteinander geführt haben. Für diese Zeit fühlte ich mich nicht gelangweilt oder „falsch“, sondern einfach nur wohl. Ich habe grünes Licht erteilt für meine Homepage, sie wird vermutlich April oder Mai online sein, inklusive Blog. Afrika, ja. – In der Grundschule gab es einen Jungen, Siggi, pummelig, frech, lausbübisch, strahlend; ich hätte es freilich nie zugegeben, aber ich schwärmte für ihn. Die Klasse saß konzentriert beim Unterricht, als mit lautem Schlag eine Wildtaube gegen die Scheibe flog. Daheim wäre ich hinausgelaufen, um sie gegebenenfalls in den Händen zu wärmen, um ihren Schock zu mildern, doch dort in der Schule traute ich mich nicht, ich war zu brav und konform. Deshalb faltete ich die Hände, schloß die Lider und wünschte dem Vogel alles Gute. „Ach, nee!“ rief es da plötzlich spöttisch. „Die Laura betet für die Taube!“ Siggis blaue Augen blitzten mich an. Ich schämte mich, und zugleich war ich schwer beeindruckt, daß dieser Rotzlöffel, der es stets faustdick hinter den Ohren hatte, derart viel Empathie besaß, zu verstehen, was vor sich ging. Er neckte mich oft, nannte mich „Burgschaf“. Später war er Polierer geworden, ich traf ihn einmal auf dem 60. Geburtstag des damaligen Grundschulleiters und ein anderes in einer Münchner Industriehallen-Diskothek. Immer klopfte mein Herz, nie sprachen wir miteinander… Er wohnte mittlerweile im Nachbardorf, sechs Kilometer entfernt, wenn ich im Wald joggte, trennte uns gerade ein Kilometer Luftlinie, 1000 lächerliche Meter bis zu einem heiteren Hallo! Wie geht´s?. Als ich in Kenia war, fand seine Beerdigung statt. Angeblich hatte er sich zu Tode getrunken. Meine Mutter sagte es erst einige Tage nach meiner Rückkehr, abends, weil sie mir hatte die Reise nicht verderben wollen, wie sie sich ausdrückte. Den kommenden Nachmittag besorgte ich leuchtend violette Stofftulpen und ein kitschiges, Engel bedrucktes Kerzenlicht, um damit zum winzigen Friedhof zu fahren, der eine altbackene Zwiebelturmkirche umfing. Der Schnee hatte alles mit dicker weißer Watte umhüllt, kein Laut war zu hören. Es dauerte deswegen etwas, ehe ich das richtige Grab entdeckte. Auf dem Holzkreuz prangte das Foto eines seelisch geplagten, aufgequollenen und offensichtlich alkoholkranken jungen Mannes, der mit 33 Jahren verstorben war – 33! Ausgerechnet 33! Das Alter meiner Schwester, mein Alter… Seine Augen leuchteten blau. Und verdammt lausbubenhaft. Meine Stoffblumen revoltierten auf dem makellos hellen, das Leben nivellierenden Schnee.
„Siggi, was machst du für Sachen?“ flüsterte ich ihm zu. Er hätte es sich ganz gewiß nie träumen lassen, daß ausgerechnet das Burgschaf an seiner letzten Ruhestätte stehen und um ihn weinen würde. Zurück zu Hause machte ich mich daran, ein Zimmer zu renovieren; drei Tage lang strich und malerte und tapezierte ich, rosa, fliederfarben, pastellen, Blumenranken und Vögelchen, sehr mädchenhaft, kindisch, und die Kraft dazu zog ich aus Siggis Tod. Mich hat eine erstaunliche Gelassenheit ergriffen. Als würde ich über den Dingen stehen – nicht aus Arroganz, sondern als Konsequenz irgendeiner läuternden Erkenntnis.
Oder wie Oscar Niemeyer in einem Interview es formulierte: „Gelebt. – Gestorben. – Angeschissen.“