264, Teil II: Sitzung
Japan, Oktober 2023.
Ich erwartete nichts, ich wollte nichts; mein Wunsch war bereits erfüllt: unter Anleitung, nein: im Beisein eines buddhistischen Mönches in Japan zu meditieren. Der Meditation gebürt mein höchster Respekt, zugleich hatte ich mich stets davor gescheut, selbst still zu verharren im Nicht-Denken, hatte es nie ernstlich ausprobiert, der Wissenschaftsdokumentationen und – bücher zu Trotz, deren neurologische und physiologische Beweise der Wirkung meditativer Praxis auf Körper und Geist mir sehr schlüssig waren.
Meine Führerin durch das Kyotoer Altstadtviertel Gion versicherte mir mehrfach, der kleine, beschauliche Tempel, der mir geöffnet würde, sei sogar den meisten Einheimischen verwehrt, man gelange nur durch Sondergenehmigung hinein (sprich: Terminvereinbarung und Bezahlung, ich habe mir sonst kein Privileg erworben, als an eine gute Agentur geraten zu sein, die meinen Träumen zur Geburt verhalf). Das abgetrennte, verschachtelte Areal beherbergte auch einen Teegarten samt Haus, wo ich vorab in die rituellen Handlungen der Teezeremonie eingewiesen wurde. Ich stand in diesem winzigen Innenhof auf der anderen Seite der rustikalen Gasse, mich in einem eigenen, abgeschlossenen Mikrokosmos wiederfindend aus Hügelchen, filigran-zauberhaften Ahornstämmen, verwitterten Steinplatten und üppigen Moospolstern, die eine feinfühlige, beruhigend-sanfte Landschaft en miniature bildeten, optisch und haptisch so einladend weich, daß es die Prinzessin auf der Erbse verzückt hätte. Als ich den fetten Pflanzenteppich streichelte, fühlte er sich unter meinen Fingern an wie das Fell eines prähistorischen Tieres, warm und rau. Es gibt ganze Moosgärten in Japan mit mehreren hundert verschiedenen Sorten, aber mir genügte das, was ich hier mit den Augen atmen durfte, völlig. Den Ablauf der Teezeremone hatte ich mir komplizierter vorgestellt, ich werde wohl einer abgespeckten Touristenvariante beigewohnt haben – oder es ist meine japanische Seele, die sich in der Heimat wußte, vertraut mit den Gebräuchen auf unbewußte Art, denn genau dies war und bedeutete mir die kurze Reise durch einige Teile Japans: eine Heimkehr. Dort gehörte ich hin mit meinen Werten, Anschauungen, Empfindungen, Neigungen, wurde ich geschätzt, akzeptiert und aufgenommen. Eine Ankunft in die Befreiung, ins So-Sein-Dürfen.
Nach der köstlichen krautigen Bitterkeit des Matchas, der noch an meinem Gaumen haftete, genossen aus rohen, urigen Keramikschalen im Dämmer eines absichtlich heruntergedunkelten, abgeschotteten Raumes, blieb mir nicht viel Zeit, Aufregung zu entwickeln über die bevorstehende Begegnung mit einem Tempeloberhaupt. Ein paar wenige Schritte führten aus dem Teegarten hinaus zum Eingang eines weiteren schlichten Gebäudes, die Dimensionen Menschenmaß, auf das Minimum reduziert, erbaut überwiegend aus Naturmaterialien. Die Schiebetüren zu den einzelnen, meist unmöblierten, mit Tatami(gras)matten ausgelegten Zimmern waren wie meist geöffnet, sodaß ich den Mann in leuchtend oranger Kutte schon beim Abstreifen der Schuhe sehen konnte – und er mich. Mein sonst vorlautes Mundwerk wurde ganz bescheiden über seinen Anblick hinweg, der so viel Autorität, Kraft verbreitete, daß die Ehrfurcht mich verstummen ließ – wann ich das letzte Mal solch einen Respekt vor einem Menschen empfunden habe? Ich weiß es nicht, zu sagen. Ich verbeugte mich mit gefalteten Händen mehrfach tief, keine geheuchelte Geste, sondern eine, die unwillkürlich kam, selbstverständlich.
Er bedeutete mir, auf einem der festen Kissen Platz nehmen und in eine Variante des vereinfachten Lotussitzes zu kommen, eine spezielle, kreisförmige Handhaltung ausführend. Über eine Dolmetscherin erklärte er mir den Ablauf der gemeinsamen Meditation, dabei Räucherstäbchen entzündend, auf Klanghölzer und -schalen schlagend. Beide saßen mir gegenüber, die ich dem mit Shoji-Papier ausgekleideten Fenster zugewandt war, durch welches mildes Licht fiel. Ich vermag eigentlich nicht, abzuschätzen, wie lange wir meditierten. Zehn Minuten? Länger? Kürzer? Ich wäre jedenfalls gerne weiter verweilt, das kann ich dazu urteilen, ja. Vom Yoga her bin ich vertraut mit der absichtsvollen, verlangsamten Atmung tief in den Bereich unterhalb des Nabels hinein, aber Nicht-Denken?
Rasch geriet ich in einen beinahe dissoziativen Zustand, der sich alles Unangenehmem entledigte – obwohl die Beine irgendwann das Kribbeln und Stechen anfingen im abgeklemmten Blutfluß. Ich hörte die Dolmetscherin ein- und ausatmen in ausgedehnten, wohl dosierten Wogen, ich hörte leise Vögel piepsen draußen und sah das Streifen bildende Schattenmuster auf den kahlen Matten, ein Muster, das zu wabern und tanzen begann, während eine Art Watte sich um meine Gedanken kleidete. Daß ich genau dafür nach Japan gekommen war, genau für diese Momente, für dieses Jetzt: in einem klaren, spärlich eingerichteten Raumdämmer einem wahrhaftigen Mönch gegenüberzusitzen in meinem absoluten, fast heilig verehrten Traumland, um durch ihn an die Meditation herangeleitet zu werden, daran dachte ich nämlich. Daß es richtig war. Einfach richtig und gut, jetzt, hier, dort, für diese eine kurze Zeit.
Als der Mönch uns zurückholte aus der Meditation, die Klanghölzer abermals schlagend, dumpf, hart, hoch, ein schönes, zugleich indiskutables Geräusch, äußerst bestimmt, und ein Gespräch begann, konnte ich mich kaum losreißen von einem Zwie, das mich gepackt hielt: als sei ich betrunken oder einem Schlaf entrissen worden, torkelte und schwankte es in meinem Kopf, die Farben waren noch trüb, körnig grau verschleiert, vor meinen Augen sah ich sich bewegende Schattenstreifen. Kaum vermochte ich, mich auf die Übersetzung ins Englische zu konzentrieren. Welche Fragen ich an ihn hätte, ließ man mich wissen. Fragen? Daß ich keinerlei Fragen hätte, die ich ihm stellen wolle. Verblüffung legte sich auf sein Gesicht, als die ins Japanische übertragenen Worte ihn erreichten. Keine? – Nein, keine. Daß ich einfach nur dankbar sei, mit einer gemeinsamen Meditation beehrt worden zu sein. Ob man es glaubt oder nicht, der Mönch errötete leicht. Ich merkte an, daß es mir schwer gefallen sei, die Sache mit dem Nicht-Denken. Und da antwortete er mir etwas, das ich ihm glaubte, weil er eben seit Jahrzehnten als Oberhaupt eines Tempels diese Praxis täglich ausübte: er meinte, die westliche Welt stelle sich Zen als Nichts, als Vakuum vor – ein solches existiere aber gar nicht. Es sei dem menschlichen Geist unmöglich, nicht zu denken. Im Zen, in der Meditation gehe es darum, wie wir dieses Denken handhaben, welche Bedeutung wir beimessen. Das wichtigste sei, tief und ausdauernd zu atmen und sich im Innehalten, in einer Achtsamkeit auf Internes, Universelles zu schulen. Ich raste quasi in Lichtgeschwindigkeit durch meine Erinnerungen, platzierte mich auf Bänken des Englischen Gartens, diverser Botanischer Gärten, auf Grasnarben von Küstenfelsen und Gesteine zahlloser Gebirge, umgefallene Baumstümpfe, auf Wüstensand: seit mindestens zu Studientagen, also bald die Hälfte meines Lebens, pflegte ich – mal mehr, mal minder intensiv und regelmäßig – zu meditieren, ohne daß ich mir dessen gewahr geworden wäre… Dies festzustellen, amüsierte mich, ich spürte, wie meine Lippen zuckten.
Der Mönch sprach viel, die Dolmetscherin tat sich schwer, zu übersetzen. Ich hatte den Eindruck, daß es nicht unbedingt am Vokabular gelegen habe – viel eher schien sie gar nicht recht zu begreifen, was der Mönch an Inhalten ihr anbot. Ich bedauerte es sehr, nicht seinen originalen Worten lauschen zu können und zu versuchen, selbst schlau zu werden aus ihm – ob ich ihn verstanden hätte, seine Gleichnisse, stets losgelöst vom Ich-Pronomen? Er erläuterte uns das Nichts (das eben Raum und Fülle bot und voller Energie sei) und die ihm eigene Auffassung von Realität – seiner Überzeugung nach schliefen wir alle in langem Traum, den wir für unsere Wirklichkeit hielten. Seine Wirklichkeit hingegen sei wie die Sterne, die man nur nachts und bei wolkenfreiem Himmel sehen könne und die dennoch existierten als Wahrheit, ob wir daran glaubten oder nicht.
Immer, wenn mich nun etwas aufbringt, mich rasend macht, bitter, ich die Fassung zu verlieren drohe, mich ungeliebt fühle, unverstanden, ich mich an Ungerechtigkeit stoße (oder das, was ich dafür halte), immer dann rufe ich mir das Gesicht des Mönches vor Augen, dessen Autorität, Gelassenheit, Stärke. Das Orange seines Gewandes leuchtet mir zwei lange Monate später noch in die Seele hinein, sie verankernd im jäh blasenden Sturmwind.