263, Teil I: Heimweg mit Virginia

263, Teil I: Heimweg mit Virginia

Japan, Oktober 2023.

Sie, die mit Steinen beschwerter Schürze ins Wasser gestiegen war, um dem ein Ende zu bereiten, was sie längst als Bürde empfand, nämlich das, was anderen als Leben lieb und teuer ist, sie stand nach bald einhundert Jahren neben mir, dozierend. Ich lauschte ihrem eindringlichen Apell, ihrer leidenschaftlichen Rede voller Witz und Ironie und Wahrheit. Es gibt diesen Ausspruch, es falle einem etwas wie Schuppen von den Augen, und genau dies wurde mir zuteil; selten eröffnete sich mir eine Erkenntnis klarer, deutlicher.

Ich war derart vertieft in die vorletzte Seite ihrer Niederschrift, daß ich den Ausstieg beinahe versäumt hätte, dem geschäftigen Treiben anderer Reisender zum Trotz. Ein Zug hatte mich binnen zweier Stunden direkt zum Flughafen gebracht, von welchem aus die Maschine zurück in die Heimat starten würde. Es war ein wundervoller letzter Tag gewesen in mildem Sonnenschein, angefüllt mit Gärten und Tempeln, mit einem Wandeln auf dem Philosophenweg und dem Abschiedskaffee auf der Veranda des Green Terrace, wo mir das Mineralwasser mit einem pink erröteten Ahornblatt dekoriert serviert worden war anstelle der obligatorischen Zitronenscheibe.

Zeit für Wehmut konnte nicht aufkommen während der Fahrt von Kyoto nach Osaka, zu intensiv lenkte das schmale Bändchen Virginia Woolfs mich ab, das in Interiorblatt-Beiträgen oft falsch bzw. kontextgelöst zitiert wird, wenn sie darin ein Zimmer für sich allein einfordert als notwendige Voraussetzung literarisch tätiger Frauen. Auch der kämpferische feministische Ton beschäftigte mich weniger; aber mit einer Sache hatte sie mich geködert, etwas das schon seit der Schule als Bonmot Walther Benjamins in meinem Hirn gespukt hatte. Daß man (gerade als Frau) nicht den Fehler begehen dürfe, zu verhaftet zu bleiben im eigenen Sumpf des Empfindens; daß Literatur erst zu guter Literatur werde, wenn sie das offenkundige, singuläre Individuum abstreife und von Allgemeingültigkeit künde. Salopp ausgedrückt: Texte weg vom individuellen Genörgel, Gejammer, weg vom Gezeter, von eigenen Schwierigkeiten hin zu Universellem, raum- und zeitübergreifend. Ähnlich meinte Walther Benjamin, es sei leichter, in spannender, gehobener Weise vom Üblen, Tragischen, Schlechten zu schreiben, als vom Frohgemuten, Glücklichen, Schönen. Ich hockte also im Shinkansen, einer optimistisch in die weibliche Schriftstellerzukunft blickenden, selbst bereits erfolgreichen Frau lauschend, von der man weiß, daß sie Schmerz und Sinnlosigkeit in ertränkende Fluten treiben werden, eine ambivalente Mischung an Input.

Mich streifte die Erkenntnis, daß ich nicht irgendwann in vage-laxer Zukunft auf Bali einen Roman verfassen würde (vgl. Beitrag 2), sondern gleich nach der Rückkehr aus Japan eine Novelle. Für etwaige Leser eines Reise-Foto-Blogs mag das unverständlich bleiben und wenig spektakulär anmuten, zu recht, aber für mich war es ein Paukenschlag an Befreiung. Eine neue Ausrichtung von Energien, eine Umorientierung der Kraftreserven, die für Motivation und Durchhaltevermögen und Kreativität zuständig sind. Eine Emanzipation nicht nur von einer pseudo-modernen Gesellschaft, sondern in erster Linie eine solche von sich selbst. Die Überwindung eines typisch westlichen Egozentrismus, vor dem man im Ethnologiestudium gewarnt hatte, abstraktes Blashorn.

Japan als Lebenswendepunkt ohne gravierende Auslöser, ohne schicksalhafte Begegnungen; und mitten darin Virginia Woolf als Dekaden durchschwimmende Flaschenpost; ob man selbst je solch nachdrückliche Durchschlagkraft wird erschaffen können? Aber darauf kommt es auch gar nicht an.

Danke Virginia, Hut ab! Danke Japan, für alles.

 

 

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