262 Mönches Rat

262 Mönches Rat

München, Dezember 2023.

 

Ich habe bisher nie Gedichte von einem Mann erhalten, und nun werde ich in Zeiten, in denen handschriftliche Post nur noch zu Geburts- und Feiertagen verschickt wird, wenn überhaupt, jeden Monat in meinem Briefkasten Lyrik vorfinden. Sie wurde weder für mich geschrieben, noch kennen Verfasser und Adressat einander, was meiner Vorfreude keinen Abbruch tut.

Seit meinem letzten Beitrag habe ich gelernt, daß unser Mond entstanden ist, als der Mars mit der Erde kollidierte und Teile von beiden Planeten absprengten, welche wiederum eins wurden durch Gravitation und Umstände, die meinen Horizont übersteigen; ich habe meine Schränke und Kommoden und Schubladen ausgemistet, frisch geordnet; habe eine Dokumentation gesehen über einen 107jährigen einstigen Berufsgeiger; das Herbstlaub bewundert, das nun gefallen unter Schnee verborgen liegt – solche Dinge habe ich getan seit meinem letzten Beitrag. Auch eine Novelle begonnen, aber das ist jetzt gar nicht wichtig.

Es war während eines Trekkings zum Jebel Toubkal; jemand hörte in der frühen Abenddämmerung, wenn das Tagespensum Wandern absolviert war und alle vor ihren Zelten hockten, müßig, die Bergkämme nah vor Augen, begeistert die Musik eines mir unbekannten Interpreten (was nichts zu sagen hat, Musik zählt zu einem Feld, bei dem meine Bildung einen blinden Fleck aufweist). Er war derart bewegt und eingenommen davon, daß er den Teilnehmern der Marokkotour hernach gebrannte CDs zusandte, mehrere gleich. Eine davon trug den Titel Die Fantasie wird siegen.

Als ich über eine Dekade später imzuge meiner groß angelegten, diverse Wochen umfassenden Wohnungs-Umstrukturierungsaktion (auf welche Marie Kondo stolz wäre) ein anderes CD Regal besorgte – eine metallene, veilchengraue Gitterkonstruktion aus Dänemark, die eigentlich für die Präsentation von Sammeltassen gedacht ist – und zum Abstauben jede einzelne CD sorgfältiger prüfend zur Hand nahm, entdeckte ich sie wieder: in doppeltem Sinne.

Beim Hören erinnerte ich mich der Melodien und Texte, ja. Und zugleich verstand ich sie plötzlich besser, begriff ich die Rhythmen, die Poesie dahinter neu. Es war, als sei ich nachgereift, der Zugang mit Ende dreißig frei geschaufelt.

Ich hatte lediglich vorgehabt, den Jahrgang nachzuschauen, das interessiert mich immer, eine Verortung durch das Geburtstdatum; auf der Homepage prangte prominent der Hinweis auf ein Lyrik-Abo – et me voilà! Welch köstlich bezaubernde Idee, allein die Idee… Gedichte also wird mir ein Mann schreiben, zwölf Monate lang – ich tue, als schriebe er sie für mich. Ich lüge mir nichts vor damit, ich erschaffe mir nur eine Illusion. Denn wie der Mönch in Kyoto mich durch die Dolmetscherin wissen ließ: alles im Leben sei Illusion; warum sich dann nicht mit den schöneren solchen umgeben und sie siegen lassen, die Fantasie?

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