261 Große Erwartungen
München, Oktober 2023.
Japan ragt wie ein riesengroßes Tor vor mir auf, einschüchternd und verlockend zugleich. Ganz unwirklich steht die Reise bevor; was ich mir für mein Japan wünsche: daß ich zu den Wurzeln zurückspüre, ich die Richtung wiederfinde, die zu mir gehört, meine Lebenszuversicht. Daß ich mich positiv im Shintoismus auflöse. Daß die Texte sich über mich ergießen, Texte, von denen ich bisher nichts ahnte, wahrhafte, ergreifende Poesie. Daß die Schriftstellerin aus dem Dornröschenschlaf erwacht und sich mit Küssen aus Worten eindeckt. Daß die Gelassenheit mich ereilt und mit ihr die Sanftmut.
Auf der Spazierrunde bietet sich ein dramatisch-theatralisches Bild: hinter weiten Wiesen säumt eine Baum- und Gestrüppgruppe den Horizont, über welchem grollend- endzeitdüstern ein fetter, undurchdringlicher, blauschwarzer Stahlbalken prangt. Dazwischen aber, zwischen einer Wind zerrupften Herbstsilhouette aus Laubgeäst und dem schweren Bösen eines Wolkenzombies aufplatzend, dazwischen reinstes silbern-gelbes Licht von atemberaubender Eleganz und Wirkmacht.
In meinen winzig klein gewordenen Dorfalltag hinein spielt Lang Lang Oldfields „Harbinger“. Ich weiß, daß mir diese Welten für immer verschlossen bleiben werden, ich nie hinter das Geheimnis der Weite steigen, mich nie in diese Höhen schwingen können werde, die dem Kern, dem Sinn, so viel näher kommen als all meine zähen, vergeblichen Bemühungen; die angepriesen Kalk toleranten Rhododendren in meinem Garten sind eingegangen, jeder einzelne der sieben Stück (vgl. Beitrag 249). Wer im falschen Umfeld verwurzelt ist, kümmert dahin.
Harbinger rollt voran, Klang gewordene Hokusai-Welle, stramm dem orangeroten Tori-Tor entgegen, das mir Japan ist.