256 Fünf Tage der Perfektion
München, Juli 2023.
Ein Juni ist vergangen, so schön wie keiner zuvor. – Es tobte ein Gewitter vor dem sperrangelweit gekippten Dachbodenfenster, durch das der Wind stob, ohne Regen zu tragen. Es zuckten die Blitze am Nachbarhaus vorüber, tanzten in Carpe-Diem-Zickzack grellmilchgelb und orangen über die dicken Wolken, die sich noch nicht ausschüttelten. Blitze, die einander jagten und kribbelten in den Armen (denn ich kann ja elektrische Ladung spüren). Die Luft roch nach Garten, lockte, verlockte, sodaß ich meine Furcht überwand (Gewitter verdienen meinen allergrößten Respekt) und hinuntereilte in die graublauen Schemen der nahen Sommersonnwende. Bauchige Silhouetten von Büschen, Rosensträuchern, Bäumen rahmten meinen Blick hinauf in den schmalen Ausschnitt des Lichterchaos´- anderntags würde es heißen, allein in Bayern hätten sich weit über zweihunderttausend Blitze gezeigt -, Silhouetten, die mir liebgewonnene Heimat waren, da ich leidenschaftliche Pflanzensüchtige bin, und während ich dem Sausen des Windes lauschte, eingebettet ins Zwiedunkel, da glommen sie auf: irrlichterne Geisterwesen, entzückend schwebende, wabernde Pünktchen, Kindheitsfreude, fliegende Laternenträger: Glühwürmchen, wie sie stumm emporstiegen, herumwaberten und allmählich erloschen…
Für eine Handvoll Tage ist der Garten perfekt, absolut makellos; eine Empfindung, die ich so noch nie hatte (weil meine Ansprüche gigantisch sind). Bedingt durch das kühle Frühjahr und den Hagelschaden Ende April in Kombination mit dem extrem trockenen und heißen Frühsommer erblühten Pflanzen gleichzeitig, die sich normalerweise in der Saison abwechseln und nacheinander in Erscheinung treten, anstatt zum selben Zeitpunkt aufzuspringen, welches letzteres einen phänomenalen Eindruck der Fülle und Pracht bewirkte: fünfzig Sorten Rosen, darunter zwei riesige, mehrere Kronen überspannende Rambler, hängender Schmetterlingsflieder, Holunder, syrisches Brandkraut, Beinwell, Päonien, Storchschnabel, Nelken, Blauraute, Ziest, Clematis, überreich duftendes Geißblatt. Eine Explosion an Formen, Farben, Texturen, eine Komposition des Lebens und der Harmonie, des Überschwangs, der puren Schönheit. Ja, der Garten war ein paar Tage lang so bezaubernd, daß es weh tat. Keine sanfte Beimengung deutsch-poetischer Melancholie, nein, ein wahrer, echter Schmerz des Wehmutes und der Bitterkeit; des Bedauerns, daß es so überschnell passé ist. Viel mehr aber: daß es niemand außer mir gewahrte. Und ich dachte an geschmackvoll gedeckte Tische unter den Obstbäumen, an Gläserklirren, Besteckgeklapper, summendes Gelächter, dachte an Aprikosen-Lavendelkuchen und mit Zitronen-Ricotta gefüllte Pasta an Salbeibutter und frische Salate aus dem Gewächshaus; an Gespräche und Heiterkeit, an Sonnenwendfeiern und gemeinsames Glühwürmchenbetrachten. Ich dachte an ein Miteinander, das mehr wäre als eine soziale Präsenz, sondern aus Gleichklang bestünde, Austausch, Intensität. Echte Inhalte, wahre Verbindungen. Vielleicht wäre auch jemand dabei gewesen, dem Pflanzen so viel bedeuten wie mir und sich genauso gut oder besser auskannte und der begriffen hätte, daß z.B. das farblich ungewöhnliche Arrangement von fünf Rosen vor dem Hühnerfutterschuppen nicht nur nach optischen Aspekten gewählt worden war; der „gelesen“ hätte, daß es eine Novalis ist, eine Fontane, Gräfin von Hardenberg, Stanwell Perpetual und Rapsody in Blue – Anspielungen auf Dichter und Widerstandskämpfer und auf Eigenschaften wie ewig wiederkehrend und schwermütig: Hoffnung, Aufbegehren, Durchhaltevermögen, Poesie. Idealtypisch war dieser Garten etwa fünf Tage lang, und angesichts der Entwicklung von Witterung und Umweltverschmutzung ist es sehr unwahrscheinlich, daß sich dieses Bild je wieder auftun wird, in Dekaden nicht. Der Höhepunkt war erreicht, das Maximum an Ästhetik, Wohlgefallen, Sinn. Nicht Likes, noch Lob wünschte ich mir sehnlichst; es handelte sich eher um die Erkenntnis, einen neuen, noch wahrhaftigeren Aspekt von Einsamkeit entdeckt zu haben.
Und mit einem Mal wurde sie mir wieder so eng, die Welt, in der ich verkehrte. Eine Welt ohne Anne-Sophie Mutter in sexy-elegantem Pink à la Valentino, eine Frau von Klasse, Virtuosität und Leichtigkeit, daß einem der Mund offen stehen blieb noch bei der vierten Zugabe. Eine Welt ohne über das Open Air-Gelände der jahrhundertealten Residenz hinwegsegelnde Möwen – mitten in München -, in das der fulminante Auftakt von Karl Orffs Carmina Burana gänsehautprickelnd schwappte. Eine Welt ohne rohe Japangefäße, in deren Glasurenschlieren man spazieren kann wie auf einem schattigen Moosteppich. Eine Welt ohne Modeschöpfer, Fotografen, Tänzer, Maler, Schriftsteller. Eine kleine, schmalspurige, begrenzte Medien- und Baumarktwelt, auf die sich bayerische Dorfkultur mittlerweile reduziert, zumindest jene im Speckgürtel prosperierender Großstädte. Eine Welt, in der Frauen nicht 230 auf der Autobahn fahren, juchzend vor Adrenalin: einmal, ein einziges Mal!, nicht ausgebremst werden, sondern persönliches Vollgas geben. Dem Kleingeist entfliehen, achtzig Kilometer lang die unbeschränkte Geschwindigkeit auskosten, ehe es zurück geht ins Nein, ins Mediengeplapper, hin zu den Mauern, die immer dichter rücken.
Ein Juni ist vergangen, sein Garten war perfekt; im Gedächtnis konkurrieren die Glühwürmchen mit den Blitzen am Nachthimmel – man lebt.