254 Konzertsoirée, rückwärts

254 Konzertsoirée, rückwärts

München, Juni 2023.

Ganz oft geht es um die Momente, die eigentlich nur Sekunden oder gar Bruchteile davon andauern und sich zugleich verdichten, zum Standbild einfrieren oder zumindest sich ausdehnen, Quantensprünge der Emotionen, Sinne, Gedanken, Assoziationen. Ich summte Breakfast at Tiffany´s mit, während ich die abschüssige Kurve Richtung Ortsschild einfuhr, umhüllt von Dunkelheit, die schneidenden Scheinwerfer des Vorder- und Hintermanns, der Entgegenkommenden Spotlights im diffusen Raum kurz vor Mitternacht. Ich sehe eine Skulptur: in ausgewogener Anmut ruht sie hinter dem Seitenstreifen, schlank, muskulös, der Körper abgewandt, der Hals zur anderen Seite – mir zu –  gedreht, erhobenen Hauptes; das Tier besteht aus nichts als Haltung und Schönheit, absolut regungslos, wie in Stein gemeißelt, in kostbaren Marmor, posiert es da. Ein Reh, denke ich. Eine Figur, ein Kunstwerk – Jugendstil!, denke ich. Ich zweifle an mir: ist es wirklich da? Oder spielt das zweite Glas Roséschaumwein mir einen Streich? Das Reh hat eine Entscheidung getroffen, es entschwindet in die schwarz-blaue Böschung, anstatt sich von meinem Wagen zu Matsch zerschmettern zu lassen, ich atme auf. Gebotene (vierund)fünfzig Stundenkilometer waren es, die ich das Auto lenkte, man könnte mathematisch ausrechnen, um wieviele Sekunden es sich bei dem eben Geschilderten handeln mochte, ich behaupte aus dem Bauch heraus: drei. Sie fühlten sich an wie eine Minute.

Mein leichtes Kleid flatterte im Abendwind, als ich die Straße zum Parkhaus entlangeilte, schnellen Schrittes, weil es mein Schritt ist. Die Zigarette eines späten Passanten glomm rotorange auf im irrlichternen dreiundzwanzig-Uhr-Junigrau, der Rauch vermischte sich mit dem Duft der Alleebäume, Linden, süß und zart, deren Laub geisthafte Schatten in der vagen Laternenbleiche warfen auf das flache Pflaster des Gehsteiges. Die Außenwendeltreppe, wohl ein Fluchtweg, des Heizkraftwerkes Süd, bildete eine beeindruckende Komposition aus Schwüngen, Rundungen, Streben, Neonröhren, ein herrliches Foto, aber eine Kamera hatte ich nicht dabei, und in diesem Vorüberziehen an einem weiteren schönen Motiv wurde mir klar: das würde sich nicht ändern.

Der Applaus brach aus wie ein Vulkan, heftig, eine unterdrückte Spannung entladend. Ich empfand ihn fast ein wenig als gewalttätig. Hart und überlaut ergoß sich das Klatschen auf die Musiker, den Dirigenten, der mich immerzu an Bacchus erinnerte in seinem schlecht sitzenden Anzug, dem milchweißen speckigen Nacken, dem gutmütigen Lächeln unter dem pausbäckigen Bart. Der Star hatte sich bereits zur Pause verabschiedet, dessen Verbeugungen waren mir entgangen, weil die ältere Dame in Leoprintstrumpfhose neben mir sich gierig mit ihrem Smartphone auf ihn gestürzt hatte, mir die Sicht nehmend. Das letzte Mal hatte ich das im Berliner Zoo erlebt: vor dem Terrarium der Warane hämmerten die Leute gegen die Scheibe, um die Aufmerksamkeit der Echsen zu erregen, abgestumpfte, frustrierte, abgeklärte Wesen, geschlagen und getrommelt hatten die Menschen auf das Glas, um ihr Handyfoto zu bekommen, beutegeifernd.

Offen gestanden: es war mir ein wenig zu pompös. Oder eher: heroisch. In der heutigen Zeit plappern alle von Abenteuer, vom Erlebniswert, vom heldenhaften, einzigartigen Ich (Moderatorin einer Reisesendung im Fernsehen nimmt an einer etwas flotteren Bootsfahrt auf spiegelglattem, azurblauen Meer teil, und schreit wieder und wieder und hört nicht auf damit: was ein Abenteuer!!). Leider ist mir die Gegenströmung angeboren, ich mache es nicht absichtlich. Je mehr sie das Heldentum stilisieren, das Abenteuer salonfähig machen und komplett verwässern, desto eher ist mir nach dem Leisen; den zarten Zwischentönen, dem Unspektakulären – eben genau das, was man jahrelang als „Achtsamkeit“ tot gequatscht hatte. Ja, zweifellos, es war herrlich, was in beeindruckendem, virtuosen Miteinander das Orchester an Beethoven zum Besten gab, darunter die berühmteste aller berühmten, die Neunte. Ich bekenne es: mich hatte jener Mann gelockt, der in etwa mein Jahrgang ist und zu den einhundert einflußreichsten Persönlichkeiten der Welt gezählt worden war (interessant übrigens, daß wir an die zweihundert Staaten haben: sollten es da nicht eigentlich schon allein zweihundert Staatsoberhäupter sein, die zum Einflußreichsten der Welt zählen? Oder gilt Benin nichts? Surinam? Laos?). Hatte mich gelockt, jawohl, schon allein deswegen, weil die meisten, als sie davon hörten, spotteten: „Oh! Zum Pop-Pianisten gehst du! Zum eingebildeten, gehypeten Klavierschnösel!“

Ich mag die Isarphilharmonie sehr gerne als Konzertlocation, doch hat sie das große Manko, zu stark ausgeleuchtet zu sein. Es ist erbarmungslos hell darinnen. Zweite Reihe, rechts außen, Restkarte – wer besucht schon allein eine klassische Veranstaltung? Zu nah am Orchester, der Winkel ungünstig. Die Frau in der Leoprintstrumpfhose zappelte herum wie die Ikone des Struwwelpeters. Das Ambiente insgesamt behagte mir dieses Mal nicht, auch das kommt vor, so ist das gelegentlich. Ich lauschte mit geschlossenen Lidern, dem grellen Licht entfliehend, der Leoprintstrumpfhose, den 1955 anderen Anwesenden, lauschte einem längst Verstorbenen, versuchend, ihn zu ergründen irgendwie. Unmerklich bewegte sich mein Kopf mit, ich steuere es nicht, es passiert von allein, aber es ist derart unmerklich, es wird niemandem auffallen vermutlich (oder stören). Steinway & Sons trippelt, klingelt, perlt und tröpfelt, donnert und rast, recht deutlich im Anschlag, sehr selbstbewußt, fest, unverrückbar, ganz anders als bei Kit Armstrong. Es tänzelt, rauscht, springt, vibriert, zittert, bekannte Melodien, fremde Melodien, ich werte nicht, zwinge mich zum reinen Hinhören, möchte das Hirn ausschalten, diese verdammte, verhaßte, überpräsente, messerscharfe, störende, belastende Hirn, ich öffne die Lider, ich weiß nicht wieso, wende den Blick – und erschrecke! Wieviele Plätze trennen uns? Viele! Und doch tut er es, er starrt mich an, greift sich meinen Blick! Zufall! Unmöglich! Es sind die Augen einer Meeresschildkröte, groß, tief, absolut unleserlich. Ich ertrage die Intensität der Pupillen nicht und drehe mich ruckartig, verstört, weg. Doch bin ich neugierig geworden. Die meiste Zeit des Konzertes verbrachte ich mit zugemachten Lidern, alles ausblendend. Wenn ich sie doch öffnete, an Stellen, die mir die Musik diktierte, und zum Klavier sah, kam es immer wieder vor, daß er auf meinem Gesicht verweilte. Vergessen, natürlich, mit Einsetzen des aufbrandenen Applauses. Teil der Show, so wie Ray Chen an der Geige mit diesem jungen, offensichtlich geschmeichtelten Mädchen der vierten Reihe regelrecht geflirtet hatte damals. Publikumsinteraktion. Leute, die auf die Bühne geholt werden wie bei David Garrett. Konzept, Kundenbindung quasi. – Ich werde es nicht vergessen, dieses Paar Augen, schwarz, gefangen, eingenommen von Beethoven.

Wie immer war ich zu früh dran, obwohl sich das Foyer durchaus schon gut belebte. Ich war von Ballerinas auf Kitten Heels gewechselt (damit ich bequem vom entfernten Parkhaus zum Veranstaltungsort gelangen konnte) und wollte die Schuhe, verstaut in einen schlichten Beutel, an der Garderobe deponieren. Ich hatte mir tatsächlich eigens für dieses Konzert ein neues Kleid gegönnt, pastellsalbeifarbene, matte Seide, wadenlang, weit geschnitten, langärmelig mit Hemdaufschlägen. Der Clou waren die Kragen- und Schulterpartie: hochgeschlossen, mit schlichten (rüschenfreien!) Volants besetzt; in der Taille mit einem simplen Band desselben Stoffes gegürtet. Unter dem Kleid trug ich eine ebenfalls weite Siebenachtelhose aus zartgoldfarbenem Satin. Im Dorf, in der Familie, unter Freunden würde man mir einen Vogel zeigen für dieses Outfit, ich hatte mich tatsächlich heimlich davon gestohlen, damit mich niemand sehen konnte in dem Aufzug, und hämische Kommentare abliefern. Es erforderte also Mut, mit Würde zu tragen, was ich eben trug. „Einen schönen Abend Ihnen!“ grüßte ich die beiden Garderobieren, einfache, ältere Damen, untersetzt, vom anstrengenden Leben gezeichnet, der Ansatz herausgewachsen. Einfache, ältere Damen, mit denen man es offensichtlich nicht immer gut gemeint hatte, beinahe geschrumpft wirkten sie, vielleicht, weil sie sich zu viel hatten ducken müssen. Ihr Lächeln hingegen war sehr, sehr herzlich und ihre offene Freundlichkeit nicht aufgesetztes Schauspiel, sondern pure Natürlichkeit, Höflichkeit aus dem Herzen heraus. Ich vernahm ein kurzes Zögern. Dann platzte es aus der einen heraus: „Meine Güte! Ist das ein schönes Kleid!“ Ich kuckte sie verdutzt an, völlig überrumpelt. „Dieser Schnitt!“ Und die andere fiel ein: „Ja, und diese Farbe!“ Sie seufzten auf gleichzeitig: „So elegant! Überhaupt so elegant, einfach alles!“ Ich bin sprachlos, beinahe muß ich weinen.

Nach der Vorstellung, vor dem Gang zurück zum Parkhaus an der fotogenen Wendeltreppe des Heizkraftwerkes Süd vorbei, gehüllt in rotoranges Zigarettenglimmen und Lindenblütenhauch, als ich den Beutel mit den Wechselschuhen wieder abholte, steckte ich dezent beiden Damen je einen Zehner zu. Aber wofür denn?, fragen mich ihre müden, überraschten, ungläubigen Mienen. „Weil Sie so nett zu mir waren.“ rutscht es mir heraus, ich habe das gar nicht sagen wollen. Aber genau das ist der Grund.

Denn im Leben, man mag es abstreiten oder nicht, geht es immer ums Sehen und Gesehen werden, gleichgültig, ob es sich beim Gegenüber um Lang Lang handelt, um die namenlose Garderobiere oder ein Reh am Straßenrand. Das kann keine KI übernehmen.

 

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