252 Einflüsterungen
München, Mai 2023.
Wenn du unglaubliche Schönheit oder unglaubliches Leid siehst, wo andere nur wenig oder gar nichts sehen, dann hast du es ständig mit intensiven Gefühlen zu tun. (…) Sieht deine Umgebung nicht, was du siehst, und spürt sie nicht, was du spürst, kann dies zu einem Gefühl der Isolation führen und generell dazu, daß du dich nicht zugehörig und fremd fühlst.“ (Rick Rubin)
Der Hund fiebte, weil er weiterwollte, doch vermochte ich nicht, mich dem Bann zu entwinden, der von mir Besitz ergriffen hatte, völlig paralysierend, hypnotisierend. Es war ein kleines Fleckchen ordinärer Wiesenkräuter, eigentlich nichts als Gras und eine Gruppe simpelsten Kerbels. Die Blütchen waren frisch aufgegangen, und zwar in einem untypischen zarten Rosa in mehreren Abstufungen, von fast weiß bis kräftig angehaucht. Ob ich je etwas derart Perfektes gesehen habe, eine Komposition so rund und ausgewogen und harmonisch? Vollendete Balance an Textur, Verteilung, Farbnuancierung, so absolut unscheinbar und zugleich geradezu kosmisch? Der Hund quietschte. Los, los! Mir ist langweilig! Ich tauchte hinein in dieses Bild, in das kleine Büschel Wiesenkerbel, keinen Quadratmeter messend, beamte es herauf zu mir, streifte es mir über, wendete es, zuckerte es mit Bewunderung und Achtung, Lob. Und von allem, was ich in der Natur gefunden hatte die letzten Wochen, von Seenglitzern und Wellenblinken und Gewittergrollen, von Fliederdüften und eiskalten Küssen aus feinem Regen, von bärlappenen Sauriergrüßen und zitrischen Päonien, von jenen Dingen, die ich eingeatmet habe mit den Poren meines Körpers, inhaliert und eingebaut in meine eigenen Fasern, war es banaler Wiesenkerbel, der mir in die Seele raunte: Nimm die Kamera… Nimm die Kamera zur Hand, mache Fotos. Es ist egal, was auf der Speicherkarte landet, ob du es richtig hinkriegst, egal, aber forme den Zauber um, hole es heraus aus uns, das, was du siehst, empfindest. Der Hund jammerte. „Ist gut, Mäuschen.“ sagte ich zu ihr. „Ich sehe dich. Auch dich sehe ich. Du brauchst nicht eifersüchtig sein auf ein paar Pflänzchen.“ Und ich wußte, ich würde sie mir kaufen, die neue Kamera, damit ich einen Link herstellen konnte zwischen diesen völlig verschiedenen Welten, von denen eine jede an mir zerrt, ohne mich ganz zu sich zu holen, ohne mich vollständig zu absorbieren und als daheim willkommen zu heißen. Die Kamera – oder das, was man dank ihrer Hilfe fabriziert – als Brücke zwischen den Dimensionen; Sprachrohr, Vermittler, Lexikon, bescheidenes Vehikel aus der namenlosen, verwirrenden, omnipäsenten Isolation. Blümchen!, äffen viele Fotoschaffende; wir verstehen uns, der Wiesenkerbel und ich.