238, Teil IV: Gabe

238, Teil IV: Gabe

München/Italien März 2023.

 

Es macht süchtig, dorthin zu gelangen; und deprimiert, wenn es sich einem für längere Zeit verschließt. Musik dient als Vehikel, ein schöner Gegenstand, Kunst, ein Eindruck, der sich abhebt vom Einerlei, komplexe Parfümnoten, die Form einer Blüte, überraschende Begegnungen, Literatur. Ich warte darauf, daß die westliche Wissenschaft es entdeckt, studiert, klassifiziert, bezeichnet und man davon erzählen kann, ohne sich für verrückt zu halten dabei. Csikszentmihalyis Flow mag in diese Richtung gehen, ebenso das spirituelle Konzept der Kogi, ein kolumbianisches indigenes Volk. Ich meine, es ist eine Ebene, mit üblichen Sinnen kaum wahrzunehmen. Der Käfer bewegt sich im zweidimensionalen Raum, während es uns Menschen selbstverständlich ist, eine dritte Dimension zu nutzen; wobei ich mich schon immer gefragt habe, wie man das herausbekommen hat: daß ein Insekt 2D lebt…? – Kafkaesk.

Wenn etwas Sinn verleiht, mich überzeugt von irgendeiner Sinnhaftigkeit inmitten der Absurdität von Werden und Vergehen, dann ist es jenes Gefühl, das dem Schreiben voraus ist und sich währenddessen verdichtet zu neuer Materie.

Kürzlich erteilte mir jemand Feedback: daß man es doch recht anstrengend fände, einen ganzen Roman aus meiner Feder zu lesen, und ich schmunzelte, denn nicht nur wäre es mir ziemlich beschwerlich, einen Roman zu verfassen, nein, auch mich selbst erfahre ich als Kraft zehrend, verquer, Nerven aufreibend, da waren wir uns folglich einig, ohne einander ausgiebiger zu kennen.

Einen roten Faden habe ich nicht im Sein, Ariadne ist da ein gewaltiger Knoten unterlaufen, ob der sich je wieder löst?

 

Als wir uns der Insel Stromboli näherten, sie in unser Sichtfeld geriet, spätestens da wußte ich abermals, welche Ehre es war, welch ein Privileg, unterwegs zu sein in der Welt. Nicht Erholung, nicht Abwechslung, Unterhaltung, Vergnügen oder gar Prestige und Status (letzteres beides fürchterliche Gründe, sich auf Reisen zu begeben), nicht Flucht, Verdrängung, Rastlosigkeit, Suche trieben mich an, mich dem da draußen zu öffnen, nein, es war mir eine Ehre, einfach eine große Ehre, die mich befiel, durchtränkt von ergriffener Dankbarkeit. Daß das kleine, übergewichtige, dauerkonsumierende, vor dem Fernseher versumpfende, in der Schule gemoppte, naive, ängstliche, allzu bequeme Mädchen aus dem bayerischen Kaff nun als erwachsene Frau Dinge erleben darf, um die es Genies anderer Epochen unsagbar beneidet hätten: so muß ich tatsächlich jedes Mal an da Vinci denken, wenn ich im Flugzeug sitze und mir die Wolken von oben betrachte; was hätte dieser fleißige, wißbegierige, streb- und gelehrsame Mann nicht alles darum gegeben! Diese Kostbarkeit verschneiter Alpenspitzen im rosa Glühen einer sinkenden Sonne, dieses Panorama, das man bis heute Vogelperspektive nennt, wo Drohnen doch mittlerweile die treffenderen Ansichten bieten. Überhaupt, was hätte da Vinci, dem Wissen alles war, gegeben für unser Wissen, beständig mühelos abrufbar im World Wide Web… Was hätte er damit angestellt, bewirkt! Was hätte Goethe daraus gemacht, binnen einer Woche Ätna und Sromboli betreten zu können, sich dort umschauend, sich aufhaltend? Was hätten die Humboldtbrüder gestaltet, welche Chancen genutzt?

 

Wir schlenderten trödelnd durch eine Gasse nahe des Hafens Milazzas, plaudernd, ein paar Bilder schießend. Ein halbes Geschoß über uns erhob sich ein Balkon, Eisen verstrebt, überquellend von Pflanzen unterschiedlichster Art, die meine Neugierde weckten, weshalb ich innehielt. Erst nach einer Weile bemerkte ich die Frau, die so greise war, daß man das Alter gar nicht mehr schätzen konnte. Sie hob gestikulierend die Hand, ich nahm an, sie verbete sich das Fotografieren, sodaß ich schon zu einer Entschuldigung ansetzte. Sie aber lächelte und drückte mir eine welke rote Kamelienblüte, halb zermatscht, in die Hand, ein Gespräch in sizilianischer (also mir unverständlicher) Sprache beginnend. Sie zeigte auf ihre Kübelschätze, deren Namen ich nachplapperte, um ihr irgendwie das Gefühl zu geben, mich auf sie und ihre Worte einzulassen, denn außer Frangipani konnte ich nichts filtern aus ihrem leisen verbalen Fluß. Ich lobte sie mit einem wiederholten Molto bello, mehr vermochte ich nicht beizusteuern, doch schien es ihr zu genügen. Sie ließ sich von den anderen geduldig ablichten, während ich lächelnd ihren Blick hielt. Da bedeutete sie mir, zu warten und verschwand im Dunkel ihrer höhergelegenen Wohnung, nur um kurz darauf zurückzukehren mit einer kolossalen pinken Schmetterlingsorchidee im Arm, auf die sie offensichtlich mächtig stolz war. Das Geschenkpapier um den Topf verriet, daß sie sie unlängst hatte als Präsent erhalten, vielleicht zum Geburtstag von einer Verwandten oder einer Nachbarin, wer weiß. Molto bello, nickte ich ihr zu. Und wieder zeigte sie an, ich solle mich eben gedulden. Ich rechnete mit einer weiteren Pflanze, doch versetzte sie mich in heilloses Erstaunen. Dieses Mal trug sie eine Krippenfigur heraus, ein großes Christuskind, dem die Kunsthistorikerin (und Ethnologin)  in mir sofort den gewissen Antiquitätenwert ansah, folklorisch ausgeführt, behutsam gefaßt, kein asiatischer Pseudo – „Volks“kitsch, sondern passabel gearbeitet. Sie öffnete mit klimperndem Schlüssel ein Gittertor an der Seite des Balkons, schritt ein paar wenige Stufen herab und überreichte mir ihren Jesusbuben, der aus massivem Gips gefertigt war und entsprechend schwer wog. Jeder von uns spürte, daß es ihr eine besondere Geste war, auch wenn wir nie ergründen werden, was sie mir, uns allen Anwesenden, mit und in ihrem Redeschwall anvertraute. Die Szene gab ein paar interessante Fotografien her, obwohl ich persönlich es ja hasse, Gegenstand eines Bildes zu sein, aber die Begegnung war derart außergewöhnlich und selten, daß ich mich aus meiner kleinlichen Sichtweise lösen konnte. Jemand lichtete es in Schwarz/Weiß ab, phänomenal. Ich glaube, die anderen wunderten sich sehr, sie sprachen von der omnipräsenten Einsamkeit der faltengerunzelten Nonna und amüsierten sich über die gewisse Absurdität, daß ich von einer Fremden einen Heiland überreicht bekommen hatte. Auch mir ist ein solches bisher nicht passiert. Aber Wundern tat ich mich nicht. Ich erlebe so viele Zufälle, so viel Bizarres, man gewöhnt sich daran und packt es in seine Seelenschatzkiste. Kürzeste Berührungen, kürzester Austausch, endlose Reihen an Abschieden. Eine Anekdote, zufällig dokumentiert in Monochrom, die mich dorthin führt, wohin es mich immerzu drängt, in dieses Gefühl hinein, das dem Schreiben vorausgeht und welches sich in diesem verdichtet zu neuer Materie, die man vielleicht Sinn getauft hat.

 

 

Illustration zeigt eine Fotografie von Johannes Wiese, 2023

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