229 Wohin
München, Februar 2023.
Die häufigste Beschäftigung meiner Kindheit und auch noch der Jugend war die des Malens. Mich faszinierten das Schöne und Kreative schließlich so sehr, daß ich beschloß, Kunstgeschichte zu studieren; mit Beginn des ersten Semesters lernte ich das Erhabene kennen, das Grandiose, Unübertroffene, die demütig machende Perfektion: nie wieder schuf ich ein Bild, griff ich zu Bleistift, Kohle, Kreide, Wasserfarben.
Meine erste eigene Kamera war eine bei Aldi erworbene digitale, kompakte Traveller (bald abgelöst von einer Casio Exilim), die ich mit Anfang zwanzig kaufte. Ich fotografierte die Blumen des Gartens, Waldstilleben und Museumsschätze während unzählig euphorisch unternommener Städtereisen durch Deutschland und Europa. Ich knipste, was mir gefiel, was mich entzückte, überraschte, bewegte, aufmerken ließ; ich hielt mir das kleine Gerät (bzw. dessen Bildschirm) vors Auge und drückte ab, ein Knöpfchen, fertig; zuweilen drehte ich am Einstellrad: Landschaft, Portrait, Nahaufnahme. Die Fotos, die ich machte, gefielen mir, ich war´s zufrieden.
Insbesondere das Kunstfoyer der Bayerischen Versicherungskammer München, das herausragende Ausstellungen erster Güte zu kostenlosem Eintritt zeigt – absolut empfehlenswert – , half mir, den Blick zu schulen, Magnum Fotografen, Salgado, Munkacsi, Pellegrini, Bill Brandt, die Crème de la Crème der Fotografie in ruhiger, unaufgeregter Hängung mit viel Luft zum Atmen und Entfalten, zum Wirken und Nachdenken trat so in mein Leben; auch die Afghanistan Schau Steve McCurrys im Amerikahaus, Peter Lindberg in der Kunsthalle am Odeonsplatz prägten, Helmut Newton in den Hamburger Deichtorhallen, nur um eine winzige Auswahl zu nennen. Dazu der Einfluß von Bildbänden und Modefotografen in Magazinen, allen voran Karl Lagerfeld; die zeitgenössischen Vortragsredner und Abenteurer wie Michael Martin; und dann noch Fotografen im „echten“ Leben, die man für ein paar Tage oder Wochen treffen, begleiten durfte, berühmte wie Carsten Egevang und privat bleibende wie etwa Gewinner diverser Kategorien des Wettbewerbes Wildlife Photographer of the Year.
Irgendwann wollte ich „richtig“ fotografieren. Besorgte mir die Spiegelreflex, belegte Kurse, Workshops, buchte Spezialreisen. Je mehr ich in die Technik eintauchte (wobei ich mich mit Physik, Chemie, etc. sehr schwer tue), desto stärker begriff ich, wie wenig ich tatsächlich wußte und konnte. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wuchs, anstatt zu schrumpfen, wie beabsichtigt. Es war genau wie zu Beginn des Studiums der Kunstgeschichte: das wahre Können anderer verschreckte mich, schüchterte ein.
Dazu gesellte sich die „Demokratisierung“ der Fotografie, stellvertretend repräsentiert von Instagram, 100 Millionen neu geposteter Bilder täglich, eine Zahl, die mich sprachlos macht, fast traumatisiert. Es ist offensichtlich, daß bei einem solch hohen Bildoutput die Reflexion über das Medium Fotografie auf der Strecke bleibt, ja, überhaupt nicht mehr gewollt ist.
Ich war für eine kleine Gegenwartskunstmesse in München angemeldet mit meinen Fotografien, hatte die Gebühr bereits bezahlt. Es wäre ein übersichtlicher Stand gewesen, ich sah schon die Ausgestaltung vor mir und eine Vase frischer Blumen, freute mich auf die anderen, noch fremden Aussteller, auf kunstinteressierte Besucher. Und von einem Moment zum nächsten wußte ich plötzlich: ich möchte meine Bilder nicht vorführen, nicht dieser Gesellschaft, die so bitter enttäuscht hat und noch immer enttäuscht. Ich möchte weder kritisiert, noch bewundert werden. Ich hätte einfach gerne über die Fotografie an sich gesprochen, aber bei dieser Kluft – auf der einen Seite 100 Millionen wenig reflektierter Posts auf der einen Seite, meisterhafte Perfektion à la Salgado auf der anderen, und ich selbst nirgends dort zu verorten – bei dieser Kluft an Fotografieauffassung konnte es kein Gespräch geben, wie ich es mir erhoffte, ersehnte. Unter Strafzahlung eines prozentualen Betrages zog ich meine Anmeldung zurück.
Ein Bild werde ich wohl nicht mehr malen, Kreide, Kohle, Wasserfarben, Bütten und Skizzenbücher lagern unangetastet seit Jahrzehnten in einem Winkel des Schrankes. Auch die Kamera verwaist seit vielen, vielen Monaten, die sich im Grunde zu Jahren summieren. Sie hat ihren Platz in meinem steten Blickfeld im Bürokämmerchen, ein stummer Vorwurf, eine leise Melancholie, ein Stich, der besagt: du wolltest doch etwas.
Aber der Stich sagt mir: es hat noch Bedeutung, es ist dir wichtig, vielleicht sogar wichtiger als je zuvor, die Fotografie. Es ist meine Vorstellung von Anmut, die sie aufzeigen soll, bergen, festhalten, leise, still, unscheinbar, für die eigene Seele, das kleine, rasch verflogene Glück. Sprechen soll sie, kommunizieren, vor Resonanz vibrierend, Schall aussendend. Ein Foto ist (in der Regel) keine dokumentarische Abbildung. Es ist ein Werk. Wirkend. Vielleicht finde ich zurück dorthin, zurück zur Leichtigkeit, als man bloß einen Knopf drückte, um sich zufrieden zu stellen.