224 Fließsand

224 Fließsand

München, Dezember 2022.

Früher, ich war im Vorschulalter, verlosten die Weihnachtstombolas des Schwimmvereins regelmäßig Objekte, die ich liebte: zwischen zwei gerahmten Plastikscheiben waren verschieden farbiger, oft metallen glitzernder Sand und eine ölige Flüssigkeit gegossen, die ins Fließen, Schlingern, Wirbeln gerieten, wenn man den Kasten auf den Kopf stellte und die immer wieder neue, faszinierende bewegte Bilder erzeugten. Ewig war mir es nicht mehr in den Sinn gekommen, entschwunden wie die Sternschnuppen (vgl. Beitrag 221), bis ich es unvermittelt sah, am Horizont klebend, unwirklich anmutend und doch tausend Prozent Natur.

Das harsche Knacken, als die Schritte steif gefrorenen Schnee zertraten, krachte durch die Waldstille. Minus zwölf Grad prickelten angenehm auf Stirn und Wangen, die Zweige der Sträucher waren eingeschlossen in Leuchtstreifen aus Eis, konserviert, schlafend; bis zu dreißig Zentimeter lange Zapfen schlüpften aus den Sagen, Märchen, nostalgischen Klischees hinaus in die Welt – wie lange hatte es das nicht mehr gegeben, echte, klirrende Tageskälte Hauff´scher Manier! Atemzüge voller Lebendigkeit, Bewegung, die bis in das Wesen vordrang, Ruhe, reinigende Labsal, und jeder Blick ein weiteres Geschenk, die Hand ausstreckend, sie einem reichend: Trost und Frieden, hier findest du beides!

Ich wandte mich um, denn die Abendsonne hatte ich im Rücken: sie schoß mir ein Foto ins Hirn, ins Herz: Kreide verwischte, verwehte wie der tänzelnde Schleier einer Wüstendüne. Weiße Stäube rieselten über eine Melange aus feinstem Blau und zartestem Grau, durchtränkt von einem Dutzend Rosaquellen. Die zerlaufenden Landschaften der kindlichen Plastikkästen wurden wahr dort hinter den Fichtenkronen. Meine Kamera! Ich faßte mir spontan an den Hals, wo sie nicht hing, keine zwei Kilo, die mir den Nacken nach unten drückten. So oft in der letzten Zeit hatte ich etwas aufgeschnappt, das ich hatte unbedingt festhalten wollen – knipsen -, und ich war ohne Spiegelreflex hinausgegangen. Werde ich es je lernen, das Fotografieren? Es beherrschen? Werde ich je mehr sein als eine flüchtige Wahrnehmung, als ein Berg von Adjektiven, Emotionspixeln, als sich verflüchtigender Zauber? Was bleibt übrig von uns?

Der Frost ist passé, im Garten schert man sich nicht um den Dezember, es treiben mitten zwischen den Jahren die Narzissen.

 

 

Illustration zeigt Strand auf Jersey.

 

 

 

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