223 Farbenergien
München, Dezember 2022.
Manchmal springt es auf und die Farben fallen heraus: an einem trüben Tag sehe ich dann statt einer Grisaille Malven- und Lilactöne, sehe ich Zartorange und Bordeauxbraun in den Schatten, oder auch lautes Grün… Es mag noch so dunkel sein vor Himmelsbedeckung und aufziehender Dämmerung, düster für das Auge, und trotzdem tanzt es hervor; Flecken eines verborgenen Spektrums, die nicht heißen aber unbestreitbar sind, zumindest für mich (und die Impressionisten damals wohl auch). Ich spaziere über einen Moorboden, der gestanzt ist aus taschenlampenscharfgelben Kreisen und morastschwarzen identischen Formen: verfaultes sowie frisches Birkenlaub. Was ist Licht, was Farbe, was Seheindruck, was Schöpfung meines Gehirns, das alles zusammensetzt und synchronisiert? Bayerischen Gewässern wird dann Californian Style verliehen, diese prägnante kitschige Mischung aus nebulösen Pastellnuancen verrücktester Zusammenstellung, Flamingorosa auf Minz und Gletscher, die Übergänge Aperol und Martini like mit Sahneklecksen aus Glitzereffekten, alles gehalten von der zweidimensionalen Scherenschnittsilhouette dutzender dümpelnder Gänse. Bezaubernd ist das, surreal, überirdisch. Visuelle Gedichte las ich die vergangenen Wochen täglich mehrmals, sie zu gewahren ein Geschenk. Sie zu bannen: in ihrer Komplexität und Schönheit fast unmöglich.
Energien und Farben sind zwei abstrakte Größen, die umfassend (und vor allem trefflich) zu schildern der Wortschatz fehlt. Es soll hier trotzdem in einen Versuch münden. Ein Buch über Geopsychologie belehrte mich vor längerem darüber, daß in Archiven historische Landkarten lagerten, auf denen rote sowie weiße Kreuze eingetragen seien, welche bestimmte Stellen (nicht unbedingt nur Ortschaften oder Orientierungspunkte wie Wegachsen) auswiesen, an denen gute bzw. schlechte Energien vorherrschten. Unglücklicherweise ist der Begriff der Energie heute entweder streng physikalisch oder aber spirituell (d.h. von Werten verzerrt) besetzt; einen Ersatz oder eine optimierte Verwendung kennen wir nicht, um das zu benennen, worauf ich hinauswill: daß es Gegenden, Gebäude, Gegenstände gibt, die in uns unwillkürlich Unbehagen, Beklemmung, Abwehr auslösen – oder umgekehrt ein Aufatmen, eine innere Befreiung, abrupte Glückseligkeit bewirken. Gewiß sind diese Empfindungen oft an Ästhetik/Häßlichkeit gekoppelt, an Sicherheit/potentielle Gefahr, doch reicht dies allein nicht aus als Erklärung. Nun werden Worte zu leeren Hülsen, wenn sie immer und immerzu verwandt werden, vielleicht gar kommerziell intendiert: Kraftort, Seelenlandschaft, Shinrin Yoku. Das ist oft der Moment, in welchem Evolutionsbiologen einhaken und Archetypen allgemein positiv oder negativ aufgefaßter Umfelder als ein Jahrhunderttausende altes, bewährtes (Überlebens-)Konzept einstufen (Stichpunkt Savanne). Es ist jedenfalls jener Moment, in dem ich das Feld des Rechtfertigens verlasse und einfach das schreibe, was ich eigentlich schreiben möchte, ohne Befürchtung, als verträumter Spinner abgestempelt zu werden…
Ein kleines unscheinbares Fleckchen Erde, von der lokalen Bevölkerung geliebt, für Fremde vielleicht zu banal, zu klein, unspektakulär, es eigens aufzusuchen, ein lang gezogener, schleifenförmiger See bescheidener Dimensionen unweit einer vielbefahrenen Bundesstraße (deren Raunen jedoch nicht durchdringt bis dorthin). Jedes Mal, wirklich jedes Mal, wenn ich mich hinbegebe, den Parkplatz verlasse und den bequemen Spazierweg betrete, bin ich verwandelt. Ich atme und lächle und entdecke mit jedem umherstreifenden Blick eine Herrlichkeit, eine Kostbarkeit. Zu jeder Jahreszeit, jeder Witterung und jedem Tagesverlauf werde ich belohnt mit Eindrücken, Assoziationen, optischen Schmankerln, ein All-You-Can-Realize-Buffet. Ein Landkartenmarker mit einem weißen Kreuz, definitiv, ich brauche es nicht in den Archiven nachzuprüfen. Im Minutentakt ändert sich die Szenereie, wenn die Dezembersonne hinter den Horizont gleitet, ändert sich der Input, die Gefühls- und Gedankenwelt, so oft eingesperrt, kleingehalten, vernachlässigt – hier findet sie Nahrung, Mineralstoffe und Spurenelemente aus Farbe, Licht, Energie, Geruch (Wind riecht und Wasser, falbenfarbenes Gras, von Schneehauben bedeckt, alles riecht).
Einer Öllache gleich schillerte die stille Seeoberfläche, wo ein kohlenes Passepartout eines umgestürzten Baumskelettes den Rahmen bildete für ein spektakuläres Schauspiel: obwohl keinerlei direkte Beleuchtung mehr vorhanden war, glomm das Wasser von innen her auf, als lebte es. Als sei tief unten am Grund eine Laterne entzündet worden, die ihr beinahe unheimliches Glühen bis hoch nach oben trieb… Nie zuvor hatte ich solcherlei gesehen, nirgends auf der Welt. Ich starrte gebannt auf die hypnotisierende Stelle, unfähig zu denken, zu werten, losgelöst von mir und zugleich ganz bei mir, bis der Hund das Fiepen anfing, sich über die Kälte beklagend und ich den Spaziergang fortsetzte. Nach vielen Schritten drehte ich mich um: flächiges Grauschwarz hatte sich gesenkt, den Hokuspokus verschluckend. Zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein, wie oft kann man das schon behaupten…