212 Ode an den Anachronismus

212 Ode an den Anachronismus

Augsburg, September 2022.

Anstatt eines Digital Native bin ich digital naiv. Ich mache mir nichts groß aus dieser Technik- und vor allem Lebensform, verstehe sie nicht, weil ich es nicht verstehen will. Offline, der realen Zeit und Handlung verhaftet, wohnt man in einer Blase, beschreitet einen parallel verlaufenden Weg zum überwiegenden Rest der Menschheit. Man wird zum leibhaftigen Anachronismus und fühlt sich so trotzdem richtig und wohl damit.

Eine Arte Reportage, die den Werdegang Instagrams portraitierte, öffnete mir die Augen für grundlegende Mißverständnisse. 100 Millionen neu geladener Bilder täglich, andere unzählige Plattformen und Formate nicht mitgerechnet; Bilder, die dem Protz dienen, dem Offenbaren tatsächlichen oder vermeintlichen Besitzes, Kleidung, Schmuck, Make Up, Interieur, grandios angerichtetes Essen (opulent bis zur Perversion, offiziell “Food Porn” getauft), karibikblaues Wasser, blinkende Partys. Obwohl die Bilder perfekt inszeniert und durchdacht sind, sollen sie nicht unter übergeordneten Maßstäben wie Komposition, Textur, Originalität gelesen werden,  sondern bloß möglichst vorteilhaft die Person (re)präsentieren. Die Kunstform, die neben dem Dargestellten eine Metaebene an Aussage und Absicht aufweist, wird damit nicht nur sekundär, sondern auch obsolet. Vom Rezipienten wird keine Deutungsarbeit mehr verlangt, er soll ausschließlich bewundern und neiden. Acht Sekunden beträgt die durchschnittliche maximale Aufmerksamkeitsspanne heutiger westlicher Menschen.

Nachdem ich diese Informationen verdaut hatte, stieg ein gelöstes Lachen auf in mir. Zerlege ich meine eigenen Fotografien in ihre rein materiellen Einzelteile, was bleibt übrig? Ein Haufen wirrer Sachen, teils teuer aussehend, teils obskur banal (zu banal nach Instagramgesichtspunkt: Hühnereier, arrangiert mit einer dicken Holzpuppe, wie soll man damit angeben?? Und überhaupt: was soll der Scheiß?), oder das Kriegsbild mit den Juwelen, der Rose, dem Lippenstift, hä????? Oder, gaaaaaanz schlimm, die ausgestopften Viecher, absolutes No Go! Oder die bitterarmen Leute, hungernd, in Fetzen gewandet, der im Müll schlafende Hund, der Mann mit dem Wischmopp inmitten der Hochglanzarchitektursilhouette; alles entweder strange oder langweilig oder abartig. Acht Sekunden Aufmerksamkeitsspanne, die ist verbraucht mit der Lektüre eines Kompositwortes wie Hochglanzarchitektursilhouette.

Komplett offline – ein Smartphone habe ich nicht nur ausgeschalten, sondern gar nicht einmal mit dabei – stehe ich in geliehenen Gummistiefeln, zu groß aber ihren Dienst tuend, in der starken Strömung der extrem flachen Mindel. Durch die dichten Laubkronen der Uferbäume blinzelt zaghaft das frühherbstliche Sonnenlicht; die endlosen Kiesel am Grund sind mit einem braunen Film überzogen, Blätter verrotten allmählich in der stillen Randzone, durch welche Wurzeln Wohngerüste über und unter der verspiegelten Oberfläche bahnen. Eine Wasseramsel sitzt auf einem herauskragenden Stein und singt ihr charmantes, vielseitiges Lied. Jungfische verstecken sich. Und immer wieder entdecken wir eines der Tiere, derentwegen wir gekommen sind: Flußkrebse! Meine ersten tatsächlich; wir wundern uns über den Reichtum an Größe, Farbe, Erscheinung; es gibt rötliche, die rückwärts pfeilschnell vor uns flüchtend davonschießen; träge, blasse Individuen, eines davon tot – als ich es wende, ist die Unterseite hübsch blau gefärbt. Und gigantische Brummer mit imposanten, weiß gefleckten Scheren. Männchen? Weibchen? Junge? Differente Häutungsstadien? Meine Freundin, Naturmädel durch und durch, und ich wissen es nicht. Wir stapfen den Weg entlang, der den kleinen Fluß säumt, immer wieder hinabsteigend und durch das gurgelnde Trudeln ziehend. Gewiß 15 Krebse haben wir während unseres unaufgeregten Spazierganges erspäht, manche furchtlos im Flachen vorsichhhindümpelnd, andere über versenkte Äste kriechend, die meisten unter Felsen hervorlugend. Später werde ich verblüfft nachlesen, daß die Diversität des Phänotypus daherrührte, daß wir nicht eine und nicht zwei, sondern gleich drei Arten Flußkrebse beobachten konnten, die beiden einheimischen Edel- und Steinkrebse sowie die invasiven nordamerikanischen Signalkrebse.

Keines der Worte meines Textes kann das Vergnügen ausdrücken, das mich befiel, als das ewig giggelnde Flußwasser gegen die übergroßen Gummistiefel schwappte, Sonnentupfen sich von hoch oben hinabbahnten zu mir, nicht wärmend und doch beglückend, und ich hin und wieder einen langen (mehr als achtsekündigen!) Blick erhaschen durfte auf diese urigen, selten gewordenen Viecherl. Eine Kamera vermißte ich nur wenig: Blende, Verschluß, Archivierung, alles geschah in meiner Seele. Offline Leben, was liebe ich dich! Danke dir.

 

Illustration zeigt Salzwasserkrabben auf einem arabischen Fischmarkt.

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