211, Teil I: Über das Abhandenkommen
England, September 2022.
Manchmal kommen einem Dinge abhanden. Da kann man nicht unbedingt etwas für, nicht immer jedenfalls oder vollumfänglich, es ist den Geschehnissen ringsum geschuldet, auf die man kaum Einfluß hat. Ich vermisse das Tänzeln der Texte, deren verspielte Leichtigkeit, kristalline Poesie. Ich vermisse das Sehnen dahinter, das sich Verzehren, die absolute Hingabe an eine Emotion, die nicht Wut ist oder Verzweiflung, sondern dieses Bittersüße birgt, aus dem heraus die unerwartetsten Worte schlüpfen. Ernüchterung. Ernüchterung ist so ziemlich das unvorteilhafteste, das einem Schreibenden widerfahren kann, karges Erdreich, verbraucht, verlassen von allen guten Geistern, in dem nichts neues wurzeln kann. Ich habe einen Helden benötigt, dem ich Verehrung entgegenbringen konnte, denn im Kraftfeld dieser Verehrung gedieh und sproß das Kreative wie von selbst. Wie oft nicht zitiere ich mir frei nach Schillers Don Carlos: Sie haben recht, Ritter gibt es keine mehr… Auch die Trauer nutzt sich ab. Man ahnt schließlich endlich die Ewigkeit der indiskutablen Tatsachen. Was treibt also noch das Innere, das Literarische an, wenn schwärmerische Liebe und tiefer Verlust nicht länger wirken? Kann man ohne Seelenaufruhr etwas zustandekriegen, kann man sich auf diese Weise genügen, zufriedenstellen? Mit Landschaften verschmelzen, sich auflösend und wieder zusammenfließend zu etwas anderem, schöneren? Wohin bist du entschwunden, du, dieser Teil Laura? Dieser Teil, der stets der wichtigste, der unverrückbare zu sein schien und den ich nun mit halber Gewalt hervorzerre, ihn beschwörend wie einen Zauber, an den man eigentlich gar nicht glaubt.
Das kühle Wasser umfing mich sanft, kaum merklich hebend, senkend, ein Wellenhauch. Die Abendsonne war untergegangen, dunkelgraue Wolkenkissen klemmten am niedrigen Horizont; von der Ferne wußte ich nur, ich spürte sie nicht: hier besaß das Meer nichts reißerisches, nichts wildes, brutales, mächtiges. Die mit Buschwerk bewachsene Steilküste erhob sich in einem bauchigen Hügel über die verlassene, kleine Sandbucht. Das pfirsichsorbetfarbene, kupfergoldene Licht, das mich gelockt hatte, um 21 Uhr noch einmal ins Hotelzimmer zu huschen und den Bikini anzuziehen, war verschwunden. Das perfekte Fotografenlicht – weg. In unmerklichen, spitzen Tropfen regnete es. Schwefegelb hatte sich in die Luft geschlichen, auf das Wolkenanthrazit zukriechend. Grell zuckte die Linie in typisch kleinteiligem Zickzack durch das Bild, weißblau-neonen, sekundenrasch. Ich genoß das kalte Wasser, die Leere, das vielleicht geringfügig Bizarre: wie die mit Algen bewachsenen Felssteine der Ebbe aufleuchteten in einem übernatürlichen, wunderschönen, samthaarigen Grün; wie die kühle Einheit um mich herum sich nicht naß anfühlte aber eben auch nicht trocken; wie die Blitze regelmäßig vorübersprangen in winkeligem Parcours; das feine Nadeln von oben herab. Allein, endlich allein (im Wesen, im Geist, keinerlei Mediengeschrei, -gebrabbel), allein auf eine gute Art, eine Zen-Art, und Jubel brandete auf in mir, Jubel, der schrie: Ja! Ja! Dafür bin ich hierhergekommn, DAFÜR, nur für diesen Moment, bin ich nach Jersey geflogen…!! Und es war die Freiheit, die aus ihrem Kerker stieg für ein paar Minuten, es war die Freiheit, die den Text gebar, noch an diesem Ort, im Gewitter-Meer, Meer-Gewitter… Als ich mich umwandte, war der Strand recht winzig geworden, hatte die Strömung mich hinausgesogen mit klammheimlicher Kraft. Ich schwamm in starken, ausladenden Zügen zurück, stapfte zu den unbeleuchteten Außenduschen, deren weicher Strahl zuckersüß schmeckte nach dem Salzbad, und ich stand im Dunkel, im Nachtwind, eingemummelt in das weiße Frotteehandtuch, tropfend, frierend, während es ein bißchen regnete, und blickte hinaus, dorthin, wo ich das Packende, Ungebändigte wußte. Der schwarzblaue Dämmer verschluckte mein Lächeln.