200, Teil IV: Zugang verwehrt
Italien, November 2021.
Ich kam meinem sportlichen Bedürfnis nach und eilte ein wenig durch die Viertel, bewußt ohne Kamera, nahm wahllos Wege und Gassen, hüpfte Brücken auf und nieder, bog streng ab – und prallte beinahe zusammen mit einer wuseligen Menge: Security, Crew-Mitglieder, Schaulustige hinter Absperrbändern, Damen in sandfarbenen Reiseköstümen aus der Zeit um 1890, Spitzenkragen, flache Hüte, die lockigen, blonden Haare gesteckt, Perlen, Broschen; ein Herr in khakibeigem Gehrock kriegte die Nase gepudert, ein bizarrer Anblick in der ersten Überraschung. Walkie-Talkie knackten und rauschten, italienisches Gebell, neongelbe Warnwesten. Ein Filmdreh! Noch einer, dem ich zufällig beiwohnte (vgl. Beitrag 10), es wurde gemunkelt, eine Netflix-Produktion, als verrate dies den Inhalt.
Sinnierend, philosophierend belagerte ich eine Brücke, verwundert es, hier in Venedig? Schade, daß es dem Deutschen an Vokabular mangelt, Wortwiederholungen zu vermeiden… Ich verlor jedenfalls die Zeit darüber hinweg, wie ich am Geländer stand, verlor ein Stück von mir, im Guten, ließ es ziehen wie ein Papierschiffchen. Erst spät bemerkte ich, daß ich mit dieser meiner Versteinerung anderen Leuten das Bildmotiv versperrte, entschuldigte mich hastig und erntete ein entwaffnendes Lächeln. Es gehörte Erin, einem kalifornischen Fotografen, dessen Sabbatical-Weltreise coronabedingt in Deutschland (!) zwangspausierte, was er geschickt dafür genutzt hatte, das Jonglieren mit Keulen zu er- sowie seine Traumfrau kennenzulernen. Verliebt, verlobt und kurz vor der Heirat nochmals auf ausgedehnten (soweit möglich) Touren. Erin war kommunikativ und ich zu spät dran zum vereinbarten Fotogruppentermin, weshalb ich ihn einfach für anderntags 18 Uhr zum Restaurantbesuch “bestellte”. Er fand es ungewöhnlich, ich pragmatisch: er konnte seinen Rededrang austoben, während ich nicht die anderen allzu sehr warten lassen mußte. So kam es, daß ich mit einem Fremden vor einer kreativ Graffitti besprühten Wand an einem Tavernentisch saß, den Blick auf einen idyllischen Platz, gar Baum bestanden, bevölkert von Einheimischen. Zu Negrino (stark!!) aßen wir Gnocchi in Käsesoße und unterhielten uns – was sonst – über Fotografie, auf deutsch, wie er insistierte, eine Geduldsprobe für mich, der Sprache ein reißender Wildfluß ist. Von all den Dingen, die man über Erin erzählen könnte, etwa dessen grandiose Insektenporträts näher schildern, wie sie mir selten untergekommen sind, eine Meisterschaft an Komposition und Gespür, erzähle ich nur diese kleine Anekdote: der Kellner hatte uns zu meinem Verdruß eine elektrische Kerze hingestellt anstatt einer wächsernen mit Docht – wo ich doch eigens zum Floristen gestiefelt war, mir echte Blumen ins Hotelzimmer zu holen…! Nach dem netten, dreistündigen Abend, als die Rechnung beglichen war, erhoben wir uns. Er packte mich am Arm, “Moment noch!” fordernd. Fragend kuckte ich ihn an. Er beugte sich über das Elektrolicht. “Wir müssen die Kerze ausblasen, nicht daß etwas passiert!” sagte er ernst und pustete kräftig über den abgeräumten Tisch mit der Attrappe, mich erheiternd, ein schelmischer Akt. Aber ich wußte, diese amüsante Geste war seine Art gewesen, mir mitzuteilen, daß er mich verstanden hatte. Danke, Erin, den ich dich nie wiedersehen werde, weil ich dir meine Nummer nicht gegeben habe.
Venedig, die Verheißungsvolle, Stadt Thomas Manns, durchwehte ein Wind, für den nicht alle empfänglich sind. Ich kann mich dir mitteilen, aufrichtig, authentisch, dir Leser, aber du wirst mir nie nahe kommen, nicht über die Mauern meines Herzens hinweg. Ich bin die, die mit den Wölfen tanzt, the last Unicorn. Ich habe ein Menschenleben und ein Schriftstellerleben, und zu einem von beiden verwehre ich dir den Zugang; zu welchem überlasse ich dem Gegenüber. Venedig jedenfalls gehörte voll umfänglich dem Schriftstellerleben.